Die EU befindet sich in einer fundamentalen Krise. Die Suche nach einer Lösung für den Flüchtlingsandrang zeigt, dass jeder EU-Staat nur auf das eigene Wohl und Wehe Rücksicht nimmt. Dabei haben sich die EU-Mitgliedstaaten zu solidarischem Handeln verpflichtet. In Artikel 80 des Lissabonner Vertrags ist "der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht" klar festgeschrieben. Dass die Slowakei nun sogar gegen die Zuteilung von Flüchtlingen klagt, könnte nach Einschätzung von Rechtsexperten mit Verweis auf diese Stelle im Vertragswerk abgewiesen werden.

Ungarn, Tschechien und Rumänien, die im Rat der EU-Innenminister ebenfalls gegen den Verteilungsplan stimmten, wollen den Klagsweg nicht beschreiten. Und Polen, das zu den vehementen Kritikern des Verteilungsschlüssels gehörte, hat dann doch zugestimmt – wohl unter deutschem Druck. Aber es ist abzuwarten, ob die Slowakei die Klage überhaupt einbringt oder deren Ankündigung nur ein politisches Druckmittel sein soll. Auch österreichische Regierungsmitglieder haben mit Bezugnahme auf diesen Artikel im August eine Klage angekündigt, um das Gegenteil zu erreichen: eine Verteilung von Flüchtlingen. Bekanntlich ist diese Androhung aber nicht umgesetzt worden.

Von einer verpflichtenden Verteilungsquote ist keine Rede mehr, die Aufnahme von 120.000 Flüchtlingen ist eine einmalige Aktion, ein dauerhafter Verteilungsschlüssel ist nicht in Sicht. Und ein neues, umfassendes Asylsystem, das dringend benötigt werden würde, ist schon gar nicht zu erwarten. Die Gräben sind derzeit so tief, dass eine diesbezügliche Einigung nicht möglich scheint. Dabei ist ohnehin nur der kleinste gemeinsame Nenner herausgekommen.

Aber diese Mehrheitsentscheidung ist ein Einschnitt: Erstmals wurde in einer Entscheidung von höchster Bedeutung das Prinzip der qualifizierten Mehrheit angewandt. 2009 wurde das Verfahren durch den Vertrag von Lissabon auf zahlreiche Entscheidungsprozesse in der EU ausgeweitet. Für das Erreichen einer qualifizierten Mehrheit ist die Zustimmung von 55 Prozent der Mitglieder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, ausreichend. Dennoch wurde stets versucht, einen Konsens zu erzielen. In einer Gemeinschaft müssen trotzdem Entscheidungen getroffen werden, die nicht allen gefallen – aber umzusetzen sind.

Gerade im Asylbereich zeigt sich jedoch, dass viele Mitgliedstaaten die einschlägigen Regeln und Mindeststandards nicht einhalten. Insgesamt 75 Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Staaten hat die Kommission eingeleitet – davon 40 neue, wie sie just vor Beginn des Treffens der Staats- und Regierungschefs bekanntgab.

Kritisiert werden die anderen, aber man macht es selbst nicht anders: Österreichs Außenminister Sebastian Kurz kritisierte Griechenland, weil es die ankommenden Flüchtlinge nicht registriert, aber hierzulande werden von den an der Grenze eintreffenden Menschen auch keine Daten erhoben. Ungarn steht wegen des Grenzzauns in der Kritik, beruft sich dabei aber auf geltendes Recht, die EU-Außengrenze schützen zu müssen.

Wenn es um das Thema Asyl geht, macht jede Regierung das, was sie für richtig hält – nach dem Motto: Erlaubt ist, was gefällt. (Alexandra Föderl-Schmid, 23.9.2015)