Blicke in die Pflegeanstalt Am Steinhof: Steve Sem-Sandberg mit der tschechischen Übersetzung von "Die Erwählten".

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Wien – Steve Sem-Sandbergs Roman Die Erwählten (Klett-Cotta, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek) wirft auf über 500 Seiten traumschwere Blicke auf die Geschehnisse in der Klinik Spiegelgrund in Wien 1940 bis 1945. Das Vernichtungsprogramm der Nazis erfasst Kinder mit angeblich "erb- und anlagebedingten schweren Leiden". Zynische Ärzte wie Heinrich Gross töten ihre Schutzbefohlenen und machen noch nach 1945 Karriere als honorige Wissenschafter. Sem-Sandberg schildert u. a. das Aufbegehren eines "Zigeuner"-Buben namens Adrian Ziegler und vergisst auch die Täter nicht. Letztere kommen mit ihren Klarnamen vor.

STANDARD: Was kann Literatur dem Thema der Euthanasie am Wiener Spiegelgrund hinzufügen? Verstörend ist die Distanz, die Sie als Erzähler gegenüber den erschütternden Vorgängen wahren. Sie schildern die Figur einer Schwester am Steinhof, Anna Katschenka. Sie verurteilen sie nicht, werben aber auch nicht um Verständnis für sie. Gleichzeitig wandert das Erleben der Kinder in eine Sphäre des Traums hinüber.

Sem-Sandberg: Ich würde das Wort "hinzufügen" nicht verwenden. In den letzten 15, 20 Jahren wurde das Thema in Österreich erschöpfend aufgearbeitet. Es gibt die Zeugnisse der Überlebenden, von Friedrich Zawrel, Alois Kaufmann und Johann Gross. Es gibt eine solide Basis von Fakten. Was ein Autor in Begriffen des Wissens hinzufügen kann? Zunächst gar nichts. Es gibt Widersprüche. Die Zeugnisse der Opfer vermitteln jeweils ihre ganz eigene Perspektive.

STANDARD: Wie sieht diese aus?

Sem-Sandberg: Man muss sich doch fragen: Woran können sie sich überhaupt erinnern, da sie doch zum Zeitpunkt des Geschehens Kinder waren? Sie konnten ihre furchtbaren Erlebnisse mit gar keiner Erfahrung verknüpfen. Wenn du zehn Jahre alt bist und deine entscheidenden Erfahrungen als Heranwachsender in einer Anstalt wie dem Spiegelgrund machst, dann prägt das deine Erlebnisfähigkeit für dein ganzes restliches Leben. Ich würde das nicht die "prägenden", sondern die "zerstörenden" Jahre nennen.

STANDARD: Man wird die furchtbare Erfahrung nicht mehr los?

Sem-Sandberg: Du bildest kein gesundes Bewusstsein aus, sondern du wirst zugerichtet. Das war für mich der Ausgangspunkt. Es ging mir nicht um eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs, das alles haben Historiker hinlänglich aufgearbeitet. Wie ist es, als Betroffener am Spiegelgrund zu leben? Wie nimmt die Figur Adrian Ziegler die Wirklichkeit wahr? Wie kann er seine furchtbaren Erfahrungen loswerden? Wie nimmt er andere wahr, wie verhält er sich gegenüber Autoritäten, Freunden? Als Patient am Spiegelgrund hatte man keine "Freunde".

STANDARD: Weil man mit dem täglichen Überleben beschäftigt war?

Sem-Sandberg: Wir haben die Realität vor uns, aber sie wird natürlich von den Charakteren entsprechend "interpretiert". Wenn man aber nun alle Voraussetzungen wegnimmt, die moralischen Anschauungsformen, was bleibt übrig? Der Überlebensinstinkt. Ein Bub wie Adrian Ziegler will sich nicht unterkriegen lassen.

STANDARD: Sie meinen das, was das Menschsein ausmacht?

Sem-Sandberg: Exakt. Ich stecke in einer Art von Zelle fest, und mein ganzes Sinnen und Trachten ist darauf ausgerichtet, von dort wegzukommen. Also bricht Adrian immer wieder aus der Spiegelgrund-Anstalt aus.

STANDARD: Dieser Instinkt ist nichts, was ihm Autoritäten eingetrichtert hätten?

Sem-Sandberg: Wenn das System alle deine Lebensäußerungen erfasst, um dich zu erniedrigen, sodass du nicht einmal mehr das besitzt, was man eine Seele nennt – da bleibt immer etwas übrig, was dich zwingt, aufzubegehren.

STANDARD: Eine Urkraft?

Sem-Sandberg: Vielleicht Gott, wenn man so will. Was füge ich als Romanautor hinzu? Gar nichts. Vielleicht ermöglicht ein solches Schreiben ein tieferes Verständnis des menschlichen Wesens.

STANDARD: Aber schenken Sie den Kindern vom Spiegelgrund nicht auch etwas? Die NS-Vernichtungsmaschinerie nimmt ihnen alles weg. Ihre Vorstellung von Freiheit kann ihnen niemand rauben.

Sem-Sandberg: In meinem Buch ist alles wahr. Ob es tatsächlich so geschieht oder geschehen ist, ist unwesentlich. Es kommen in meinem Roman auch Schutzengel vor. Einer der Buben, die ich schildere, stellt sich vor, sie würden einander wie jubelnde Fußballspieler umarmen. Das entspricht der Vorstellungswelt eines Zehnjährigen. Er wird in einer winzigen Zelle festgehalten, er darf sich nicht rühren und soll sich nichts vorstellen. Und trotzdem erschafft er sich seine eigene Realität. Das ist eine simple Überlebenstechnik. Vielleicht liegt darin die Verantwortung eines Schreibenden: Er nimmt die dürren Fakten von Existenzen, die nichts sind als Einträge in Stammblättern. Da stehen vielleicht Plus- oder Minuszeichen davor. Zu diesen "Fakten" gehört die Wiedererfindung der dahinterliegenden Schicksale.

STANDARD: Täter wie Schwester Katschenka bleiben hinter einer Maske der Wohlanständigkeit verborgen. Gibt es ein allmähliches Hinübergleiten in die Bezirke des Bösen?

Sem-Sandberg: Anna Katschenka trägt ihre ungerührte Maske vor anderen zur Schau, nicht für sich. Sie ist aus biografischen Gründen eine tief verletzte Person. Als ich das Buch begann, entschied ich mich zunächst für die Perspektive der Opfer. Doch je länger die Arbeit dauerte, desto "interessanter" wurde für mich die Figur der Schwester, die an die Kinder Luminal verabreicht und keinerlei Mitleid zeigt. Was können wir über die Täter in Erfahrung bringen, diejenigen, die das Euthanasieprogramm in die Tat umsetzten? Je näher ich dieser fiktionalisierten Gestalt kam, desto weniger stimmte sie mit den geläufigen Schablonen überein: dumme, böse, stumpfsinnige Täter. Sie ist sensibel und hat Schuldgefühle. Sie war z. B. mit einem Juden verheiratet und schämt sich dessen. Sie wartet in gewisser Weise auf Erweckung und "Befreiung". (Ronald Pohl, 26.9.2015)