Die wechselseitige Ablehnung löst sich durch Toleranz nicht auf, sie darf sich allerdings nicht in rechtliche Benachteiligung übersetzen. Genau darin liegt aber noch immer ein großes Problem, sagt Rainer Forst.

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STANDARD: Im Zuge der Flüchtlingskrise leistet die Zivilgesellschaft viel Hilfe. Aber inwiefern hat das spontane Mitgefühl oder die Empathie, die Teile der Bevölkerung zeigen, etwas mit Gerechtigkeit zu tun?

Forst: Sie haben nicht notwendigerweise etwas miteinander zu tun. Mitgefühl und Empathie sind zunächst einmal subjektive Empfindungen, die auch kollektiv geteilt sein können. Doch die daraus entstehende Bereitschaft zu helfen ist prekär. Wenn das spontane Mitgefühl dazu führt, dass es zu einer politischen Öffnung für Flüchtlingsnöte kommt wie in Deutschland vor einigen Wochen, dann ist das eine gute Sache. Aber man kann auf Empathie und Mitgefühl nicht vertrauen, denn sie sind wandelbar, und sie können auch zu Willkür führen, etwa wenn Menschen mit einer bestimmten Herkunft oder Religion bevorzugt werden, weil man sich mit ihnen leichter identifiziert. Eine solche Selektivität steht mit der Gerechtigkeit in Konflikt.

STANDARD: Letzte Woche fand ein Kant-Kongress an der Uni Wien statt, auf dem Sie über den "Kantischen Republikanismus" sprachen. Was macht Kant für diese aktuellen Probleme interessant?

Forst: Kant fordert kategorisch, die Politik an den Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit auszurichten. Diejenigen, die politische Verantwortung tragen, müssen entsprechend die Sprache des Rechts und der Gerechtigkeit deutlich machen – nicht die Sprache der Barmherzigkeit etwa. Menschen, die aus Kriegsgebieten flüchten, haben ein Recht auf Asyl. Sie aufzunehmen ist keine Barmherzigkeit, sondern das, was man tun muss, wenn man die Menschenrechte ernst nimmt. So ist das auch bei Kant: Er gibt den Staaten das Recht, über Einwanderung zu befinden. Aber wenn das Abweisen von jemandem mit dessen Untergang einhergeht, dann fordert das "Weltbürgerrecht" seinen Schutz.

STANDARD: Ihrer Arbeit zufolge ist "Toleranz" in diesen Prozessen nicht der beste Weg. Toleranz ist meist im Zusammenhang mit Minderheiten Thema, obwohl sie als solche ohnehin wenig Einfluss haben. Warum ist das so?

Forst: Es gibt unterschiedliche Verständnisse von Toleranz. Eines besagt, dass Mehrheiten bestimmen können, unter welchen Bedingungen Minderheiten leben dürfen, sofern sie sie dulden. Das ist die Art von Toleranz, die wir in den klassischen Toleranzedikten wie etwa der Habsburgermonarchie finden. Das ist aber nicht die Toleranz, die wir in Demokratien pflegen sollten. In Demokratien sollten Mehrheiten über bestimmte Fragen eben nicht bestimmen können, da sie grundrechtsrelevant sind – zum Beispiel, dass eine Moschee kein Minarett haben darf. Oder dass Lehrerinnen keine Kopftücher tragen dürfen. Es gibt Prinzipien der Religionsfreiheit, der Chancengleichheit und der Gleichberechtigung insgesamt – und die bedeuten, dass Lesben oder Schwule heiraten dürfen oder dass eine Lehrerin ihr Kopftuch tragen darf. Das tut zwar vielen noch weh, weshalb hier schon Toleranz nötig ist, aber Mehrheiten dürfen Minderheiten nicht zu Bürgern und Bürgerinnen zweiter Klasse machen.

STANDARD: Sie sprechen bei "Toleranz" auch von einem "erdulden". Erdulden, was man im Grunde für falsch hält?

Forst: Ja, die Toleranz ist keine freundliche Haltung. Wenn Sie am Ende unseres Gespräches sagen: "Was der Forst da sagt, kann man gerade noch tolerieren", dann ist das kein Kompliment für mich. Insofern heißt Toleranz immer, dass man mit dem, was andere denken oder tun, ein echtes Problem hat. Und da fängt es an, denn man muss wissen, welches Problem man damit hat und ob dieses Problem vielleicht bei mir und meinen Vorurteilen liegt, und nicht bei dem, was die anderen denken oder machen. Gleichwohl: Wenn man überzeugter Christ ist, muss man natürlich nicht die Haltung haben, der Islam sei genauso wahr – und umgekehrt. Toleranz heißt in einer Demokratie nur: Auch wenn ich mit Überzeugungen und Praktiken von Menschen ein wirkliches Problem habe, müssen diese dennoch gleichberechtigt bleiben, sofern sie nicht selbst gegen Grundrechte verstoßen.

STANDARD: Toleranz löst also keine Konflikte?

Forst: Sie legt sie zunächst einmal bei und entschärft sie. Aber Toleranz ist keine Schönwetterveranstaltung, denn die wechselseitige Ablehnung bleibt bestehen. Aber sie darf sich nicht in rechtliche Benachteiligung übersetzen – doch das ist noch immer ein großes Problem.

STANDARD: Der Streitpunkt liegt doch oft genau darin, ab wann eine Haltung oder Handlung für andere schädlich ist, oder? Ein Beispiel ist das Kopftuch, über das manche sagen, es dürfe nicht toleriert werden, weil es die Frauenrechte bedroht.

Forst: Dieses Argument muss man natürlich ernst nehmen. Patriarchale Lebensformen – und die soll es ja auch im Christentum geben und gegeben haben – müssen wir kritisch im Auge behalten. Die Grenze der Toleranz liegt in der Tat dort, wo eine Lebensform Frauen die Gleichberechtigung versagt. Das Kopftuch aber generell als symbolische Kette zu deuten, die Frauen zu Menschen zweiter Klasse macht, ist nicht berechtigt; dafür gibt es zu viele Interpretationen dieser Praxis, gerade auch von denen, die es tragen. Dennoch muss in der schulischen Erziehung auf Gleichberechtigung Wert gelegt werden – und da gibt es Stoff für Konflikte. Toleranz muss eben auch von Minderheiten gefordert werden, die es lieber anders hätten. Wichtig ist die Balance zwischen dem Respekt gegenüber einer Lebensform, die religiös begründet ist, und nicht verhandelbaren Gleichberechtigungsansprüchen.

STANDARD: Für viele Menschen ist heute Homosexualität so selbstverständlich, dass diesbezüglich Toleranz für sie keine Kategorie mehr ist – andere können sich nur schwer zu Akzeptanz durchringen. Wie geht man mit dieser Kluft um?

Forst: Ich denke, gerade bei der Haltung zur Homosexualität hat sich in den westlichen Gesellschaften viel verändert. Toleranz ist in Teilen der Gesellschaft gar nicht mehr nötig, weil man schlicht kein Problem mehr damit hat. Dennoch ist etwa die Haltung gegenüber dem Islam in der westlichen Gesellschaft, nicht erst seit dem 11. September 2001, angespannt – hier sind Ablehnung und Angst stark gewachsen.

STANDARD: Gleichgültigkeit gegenüber einer Lebensform ist die Überwindung der Toleranz?

Forst: Gleichgültigkeit ist nicht immer etwas Gutes. Aber in dem Moment, wo man in bestimmten Lebensformen, die niemanden unterdrücken, kein Problem mehr sieht, ist Gleichgültigkeit etwas Begrüßenswertes.

STANDARD: Wo liegt für diese gesellschaftspolitischen Themen der zen-trale Anknüpfungspunkt zu Kant?

Forst: Die kantische Philosophie erinnert als Philosophie der Aufklärung daran, dass die Vernunft den Relativismus, also die Auffassung, eine Tat könnte hier als moralisch verwerflich gelten und woanders als moralisch in Ordnung, nicht akzeptieren kann. Kant verknüpft die strikten moralischen Verbindlichkeiten der Achtung des Anderen als "Zweck an sich" mit dem Vermögen der praktischen Vernunft. Dort, wo man das nicht sieht, glaubt man, die Grenzen der Toleranz seien durch konventionelle "Hausordnungen" zu ziehen und nicht mithilfe allgemeiner Prinzipien. Dort glaubt man auch, Moral und Religion stünden auf einer Stufe, beliebig austauschbar. Kant lehrt uns, dass dem nicht so ist: Der Glaube hat seinen Platz, die Vernunft ist als allgemein geteilte dem übergeordnet, wenn es um die Moral geht. Allerdings brauchen wir auch einen kritischen Blick auf die Aufklärung, um vorschnelle Universalisierungen westlicher Wertvorstellungen zu vermeiden. Aber letztlich sind die Menschenrechte kein Besitz "des Westens", sondern all derer, die gegen das Unrecht aufbegehren. (Beate Hausbichler, 02.10.2015)