In der ÖVP greift Panik um sich: Anders lassen sich die überhitzten Reaktionen auf das Wahldebakel in Oberösterreich kaum deuten. Grenzzaun um Österreich, Tränengas gegen Flüchtlinge, lancierte Horrorzahlen zu den Asylkosten: Ohne Plan und Absprache, ohne Maß und Ziel versuchen schwarze Politiker Duftmarken zu setzen, um abtrünnige Wähler von der FPÖ zurückzulocken. Und zu schlechter Letzt schmeißt auch noch der Parteichef, im koalitionären Tagesgeschäft bisher nicht als Häferl aufgefallen, die Nerven weg.

Seit dem Debakel am heimatlichen Wahlsonntag glaubt Reinhold Mitterlehner offenbar, sich nach Kräften verbiegen zu müssen: Entgegen seinem liberalen Image fordert der Vizekanzler ein schärferes Asylrecht, trotz Sozialisation im ehernen Konsens der Sozialpartnerschaft stellt er die rot-schwarze Regierung infrage. Wenn die Arbeit nicht ehebaldigst vorankomme, warnt Mitterlehner in den "Oberösterreichischen Nachrichten", mache das "Weiterwurschteln" keinen Sinn.

Die eigene Regierung in die Luft zu sprengen hat in der ÖVP Tradition. Doch diesmal kann der Zündler, sofern nicht von einer lemmingartigen Untergangssehnsucht getrieben, seine Drohung unmöglich selbst ernst nehmen. Die ÖVP steht nicht nur nach (Oberösterreich), sondern wohl auch vor einer Wahlniederlage (Wien) und in nationalen Umfragen mit zehn Prozent Rückstand auf die FPÖ auf Platz drei – im Vergleich zu dieser Ausgangslage hatte Mitterlehners Vorvorvorgänger Wilhelm Molterer, der einst mit einem markigen "Es reicht!" die Koalition (und seine Karriere) beendete, eine g'mahte Wies'n vor sich. Jetzt zur Nationalratswahl zu rufen bedeutet den sicheren ersten Platz für Heinz-Christian Strache; und als H.-C.s Steigbügelhalter kann Mitterlehner nicht in die Geschichte eingehen wollen.

Zum Motivationsschub, wie der VP-Chef hinterher zu relativieren versuchte, taugen seine Worte hingegen tatsächlich – für Blaue, Grüne und Co. Die Koalitionsparteien jedoch werden sich den Imageschaden aus Mitterlehners Abrechnung mit der Regierungsarbeit brüderlich teilen. Haben SPÖ und ÖVP den Vorwurf der Handlungsunfähigkeit bislang als böse Unterstellung abgetan, ist der Befund nun quasi amtlich – bestätigt vom zweithöchsten Regierungsmitglied.

Die ÖVP schiebt den schwarzen Peter natürlich dem Koalitionspartner zu, doch wer soll die Mär vom schwarzen Reformer und roten Blockierer noch glauben? Fürs Bremsen ist in der Koalition nicht allein die SPÖ zuständig: Bei den Verhandlungen über das Arbeitsmarktpaket, angesichts der Jobmisere nicht gerade ein Nebenschauplatz, schaltet etwa der ach so reformwütige Wirtschaftsflügel, der auf Mitterlehner offenbar wegen der für Unternehmer enttäuschenden Steuerreform sauer ist, konsequent auf stur.

Der bisher so verbindliche Mitterlehner scheint an dieser Linie Gefallen zu finden. Die Regierung müsse vom "gegenseitigen Abtausch" der Forderungen wegkommen, fordert der Parteichef, entgegen seinen sozialpartnerschaftlichen Erfahrungen. Doch auch das werden, wie die Absprungsdrohung, leere Worte bleiben. Wie soll eine Koalition aus ähnlich starken Partnern denn sonst funktionieren? Will die Regierung überleben, bleibt SPÖ und ÖVP nichts anderes als der vernünftige politische Deal – zu Unrecht als Kuhhandel verunglimpft – übrig. Für die Alleingänge, von denen Mitterlehner träumt, fehlt ihm eine Kleinigkeit: die absolute Mehrheit. (Gerald John, 1.10.2015)