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Russischer Bombenabwurf in Syrien – die Bilder hat die russische Regierung am Freitag veröffentlicht

Foto: Reuters/Ashawi

Europas Regierungen haben zu lange den Kopf in den Sand gesteckt und im syrischen Bürgerkrieg die falschen Strategien verfolgt. Noch selten war eines der berühmtesten Nicht-Brecht-Zitate so zutreffend wie in der aktuellen Flüchtlingskrise: "Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin … dann kommt der Krieg zu dir."

Die Folgen des Krieges sind heute überall in Europa sichtbar: Hunderttausende Flüchtlinge zeigen den europäischen Regierungen durch ihre bloße Anwesenheit, welche Versäumnisse und Fehler in den vergangenen vier Jahren begangen wurden. Doch viel zu langsam reift die Erkenntnis, dass man den Flüchtlingsstrom nur stoppen kann, wenn man die auslösenden Probleme vor Ort beseitigt. Die Chance auf eine Verhandlungslösung und einen Rücktritt des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad wurde dem finnischen Nobelpreisträger Martti Ahtisaari zufolge vom Westen schon 2012 leichtfertig verspielt, zu sehr glaubte man an einen raschen Sturz der Regierung.

In den vergangenen Wochen setzte sich langsam die Meinung durch, dass man mit Assad zumindest reden muss, um zu einer Lösung zu gelangen. An der bisher betriebenen Politik des Regime Change, deren einziges Ziel der militärische Sturz Assads ist, hält der Westen jedoch weiterhin fest. Dabei sollten die Lehren aus den Zuständen in Libyen zeigen, dass ein Regime Change ohne ein Konzept für den Tag danach nur zu Chaos führt und alles verschlimmert, egal wie schlimm der gestürzte Diktator auch war.

Konzeptloser Westen

Ein derartiges Konzept kann der Westen jedoch nicht vorweisen. Die syrische Opposition ist ein inhomogenes Gebilde aus zum Teil gemäßigten, demokratisch orientierten Gruppen, ethnisch orientierten Einheiten wie den Kurden, aber auch zahlreichen islamistischen Organisationen, deren erklärtes Ziel die Errichtung eines islamischen Staates ist. Sollte die syrische Regierung stürzen, würden diese Gruppen das entstehende Machtvakuum ausfüllen, der bewaffnete Konflikt würde, ganz wie in Libyen, erst richtig beginnen.

Die Forderung der westlichen Regierungen nach den ersten russischen Luftangriffen, Moskau dürfe ausschließlich Stellungen der IS-Terroristen bombardieren, ist ein Irrweg. Die ersten russischen Bomben am Mittwoch galten offenbar dem syrischen Al-Kaida-Ableger Nusra-Front und der Islamistenorganisation Ahrar al-Sham. Beide Gruppen sind für Kriegsverbrechen an Zivilisten verantwortlich und wurden übrigens selbst schon Ziel von US-Luftangriffen. Die Tatsache, dass sie gegen die syrische Regierung kämpfen, darf sie noch nicht zu Verbündeten des Westens machen. Die oppositionelle Freie Syrische Armee hingegen gilt auch den Russen als "wichtiger Teil des politischen Prozesses", wie Außenminister Sergej Lawrow sagte.

"Gute" und "schlechte" Terroristen

Es mutet absurd an, wenn sich ausgerechnet Washington über Bomben auf einen Al-Kaida-Ableger empört – eine Organisation, die am 11. September 2001 tausende Menschen in den USA ermordete und deren Anführer Osama bin Laden selbst von US-Truppen getötet wurde. Auch Frankreichs Präsident François Hollande forderte, Luftangriffe dürften ausschließlich gegen den IS geflogen werden. Hollande vergisst dabei offenbar, dass die Mörder der "Charlie Hebdo"-Redakteure in Paris ihre Terrorausbildung von Al-Kaida erhalten haben. Eine Unterscheidung in "gute" und "schlechte" Terrorgruppen macht die westliche Politik unglaubwürdig.

Saudische Chuzpe

Chuzpe beweist in diesen Tagen Saudi-Arabien: Riad ließ über seinen UN-Botschafter Abdallah al-Muallimi die Besorgnis über die russischen Luftangriffe ausrichten. Zahlreiche unschuldige Menschen seien dabei ums Leben gekommen. Derartige Bedenken hat das Königreich bei seinem Krieg im benachbarten Jemen allerdings ganz offensichtlich nicht.

Kein Zweifel: Bei den russischen Luftangriffen werden auch Zivilisten sterben. Das tun sie aber auch bei den Angriffen der USA, Großbritanniens und Frankreichs auf den IS. Eine Wirkung der westlichen Bombardements ist bisher jedoch weitgehend ausgeblieben. Der Terror islamistischer Gruppen kann nur auf dem Boden beendet werden, und dazu bedarf es einer Kooperation mit Damaskus, Bagdad, Teheran, der demokratischen syrischen Opposition und den Kurden. Letzteren werden weitgehende Zugeständnisse gemacht werden müssen. Über die Zukunft Assads muss später entschieden werden. (Michael Vosatka, 2.10.2015)