Die alles sehenden Augen des Buddha von Swayambhunath, der das Beben auf einem Hügel im Westen Kathmandus unbeschadet überstand.

Klaus Taschwer

Der Schock sitzt immer noch tief. Egal, mit wem man in Nepal über den 25. April 2015 redet: Jeder hat seine eigene Geschichte von dem großen Erdbeben mit der Magnitude 7,8 zu erzählen, das fast 9000 Tote forderte.

René Shresta, der junge Manager des Luxushotels Dwarika’s in Kathmandu, hatte Glück: Der in Deutschland aufgewachsene Enkel des Hotelgründers wurde im Freien überrascht, wie er erzählt. Sein Hotel, eine der exklusivsten Adressen Asiens blieb nahezu unbeschädigt, dennoch mussten die betuchten Gäste einige Nächte in Zelten verbringen.

Viele andere erwischte es viel schlimmer: Das Haus, in dem Pyari Prayapati lebte, stürzte ein. Die junge Nepalesin aus Bhaktapur nahe Kathmandu überlebte wie durch ein Wunder so gut wie unverletzt, zwei Mitbewohner starben in den Trümmern ihres Hauses.

Die Frau lebt heute in einer Notunterkunft: einer Wellblechhütte in einem Camp inmitten der alten Königsstadt. Die 15.000 Rupien Erdbebenhilfe (etwas über 130 Euro) sind viel zu wenig. Was die nächsten Monate bringen werden, weiß sie nicht. Das Lager soll nächstes Jahr aufgelassen werden.

Die Götter als "Bebendämpfer"

Doch es gibt auch einen Satz, den viele Nepalesen annähernd gleichlautend äußern: "Die Götter haben das Erdbeben auf sich genommen." Tatsächlich sind etliche der Tempel in den drei Königsstädten Kathmandu, Bhaktapur und Lalitpur eingestürzt, während die Schäden an der übrigen Bausubstanz verhältnismäßig geringer sind, als es die Bilder aus den Medien vermuten ließen.

Einige der weniger ramponierten Tempel in der Altstadt von Kathmandu.
Klaus Taschwer

Mehr als fünf Monate danach ist der Wiederaufbau allerdings längst noch nicht in die Gänge gekommen. Das liegt zum einen an der Monsunzeit mit ihren schweren Regenfällen, die heuer erst Anfang Oktober zu Ende neigten. Zum anderen erweist sich das politische System des Landes als einigermaßen handlungsunfähig: Die mehr als drei Milliarden Euro an zugesagten Hilfsgeldern aus dem Ausland sind wegen der Patt-Stellung der drei Parlamentsparteien nach wie vor unangetastet.

Immerhin hat das Beben dazu geführt, dass man sich nach vielen Jahren des Verhandelns zu einer neuen Verfassung durchringen konnte, die Ende September in Kraft trat. Und es laufen Bemühungen, den Tourismus wieder anzukurbeln. Schließlich ist dieser Sektor auch der zweigrößte Devisenbringer des Landes nach den Jobs der nepalesischen Wanderarbeiter in den Golfstaaten.

Massive Einbußen bei den Touristen

Wer Nepal wirklich helfen will, sollte als Tourist kommen. Das sagen in Nepal alle, die mit Tourismus zu tun haben: lokale Reiseführer wie der exzellent deutsch sprechende Bhola Pathak ebenso wie der Manager des Dwarika’s. Rund 800.000 Besucher waren es 2014, heuer werden es deutlich weniger sein, obwohl die touristische Infrastruktur vergleichsweise wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde: Seit einigen Wochen sind auch die Achttausender wieder zur Besteigung freigegeben, und die meisten der beliebten Trekkingrouten sind wieder begehbar.

Wer Nepal wegen seiner Kulturdenkmäler besuchen will, muss sich wohl noch einige Zeit mit vielen Lücken abfinden, so wie nach dem Beben 1934. Neben den Zerstörungen in den Königsstädten fiel etwa auch die Spitze des fast 40 Meter hohen Stupa in Bodnath zu Boden.

Der Stupa von Bodnath, dessen goldenes Buddha-Gesicht auf der Spitze wieder aufgebaut wird.
Klaus Taschwer

Dennoch pilgern nach wie vor täglich hunderte Tibeter mit dem Mantra "Om mani padme hum" auf den Lippen um das buddhistische Heiligtum im Großraum Kathmandu.

Dieser längst zusammengewachsene Moloch mit seinen drei Millionen Einwohnern bietet Abenteuer der etwas anderen Art: Aktiv am (Links-)Verkehr teilzunehmen, ist für Ausländer eher lebensgefährlich. Passiv ist er ein Härtetest sowohl für die Ohren als auch für die Atemwege.

Asche zu Asche, Feinstaub zu Feinstaub

Warum Kathmandu zu den Städten mit der schlechtesten Luftqualität weltweit zählt, liegt aber unter anderem auch daran, dass im Areal der Tempelanlage von Pashupatinath am Rande der Metropole täglich rund drei Dutzend Leichen öffentlich verbrannt werden. Das geschieht auf Holzstapeln und unter Beigabe von Butter, ehe die Überreste dem heiligen Fluss Bagmati übergeben werden, der wiederum in den Ganges mündet. Asche zu Asche, Feinstaub zu Feinstaub – der ewige Kreislauf des Lebens.

Eine rituelle Leichenwäsche am Fluss Bagmati, ehe die Leiche verbrannt wird.
Klaus Taschwer

Um dem Lärm und der eher ungesunden Luft der Großstadt zu entgehen, empfehlen sich Wanderungen am Rande des Dachs der Welt: Neun der 14 Achttausender befinden sich in Nepal. Viele davon können auf einzigartigen Trekkingrouten umrundet werden. Die mit Abstand beliebteste ist jene rund um das vom Beben weitgehend verschonte Annapurna-Massiv, die 2014 von über 100.000 begangen wurde und in der Maximalvariante drei Wochen dauert.

Auf Augenhöhe mit den Achttausendern

Ausgangsort für Wanderungen in dieser Region ist Pokhara, Nepals zweitgrößte Stadt, die 150 Kilometer Luftlinie westlich von Kathmandu liegt. Trotz der geringen Entfernung, die der Distanz zwischen Linz und Wien entspricht, empfiehlt sich der gut 20-minütige Flug: Das imposante Panorama, das Himalaja-Giganten wie Manaslu (8125 m) und Annapurna (8091 m) bieten, ist nicht nur im Vergleich mit dem nördlichen Voralpenland schlicht und einfach atemberaubend.

In der Stadt, die malerisch am Phewa-See gelegen ist, gibt es dann auch alles zu kaufen, was man für ein hochalpines Trekking benötigt: ausschließlich Markenware, nur eben um etwa 20 Prozent vom Originalpreis – und halt eher gut nachgemacht. Wie auch immer man sich ausgestattet hat: Losmarschiert wird nicht in Pokhara, sondern nach einer rumpeligen Jeep- oder Busfahrt etwas außerhalb der Stadt, zum Beispiel im Dorf Khare.

Buntes Boots-Idyll am Phewa-See.
Klaus Taschwer

Da heuer der Monsun besonders lange dauerte, hängen leider Ende September Nebel und Wolken über der üppigen Vegetation und verhindern den Blick auf die Eisriesen, unter denen bei klarer Sicht der Machapucharé hervorragt, das knapp 7000 Meter hohe "Matterhorn Nepals". Der Berg ist auch der heiligste des Landes, weshalb sein Gipfel auch noch nie betreten wurde: Die einzige Expedition, die in Gipfelnähe kam, musste kurz davor wegen Protesten der Sherpas umdrehen.

Trotz des schlechten Wetters sind die fast 6000 Höhenmeter tiefer gelegenen Wege gut begehbar, die sowohl rund um das gewaltige Bergmassiv, aber auch direkt zum Annapurna-Basislager führen. Und auch die Hütten entlang der Strecke weisen eine Ausstattung fast mir westlichen Standards auf, wie etwa das Australian Camp auf rund 2000 Metern Seehöhe.

Üppige Vegetation nahe dem Dorf Khare, Ausgangspunkt vieler Annapurna-Trekkings.
Klaus Taschwer

Nur auf das spektakuläre Bergpanorama wartet man auch hier vergebens: Regen und Nebel statt Annapurna und Machapucharé. Man tut aber ohnehin besser daran, beim Gehen und Stehen den Blick zu senken. Denn das feuchte Wetter bringt es mit sich, dass sich in den nassen Wiesen und Pfützen zahllose Blutegel tummeln. Und so wird die Wanderung prompt zu einer Prüfung à la Dschungelcamp: Trotz knöchelhoher Trekkingschuhe und langer Hose finden die Parasiten, die nüchtern klein wie halbe Streichhölzer sind, mit akrobaktischen Turneinlagen ihren Weg ans Ziel.

Ekeliges Kribbeln am Knöchel

Das merkt man, wenn überhaupt, aufgrund eines leichten Kitzelns in der Gegend über dem Knöchel. Unterzieht man den Unterschenkel dann einer kleinen Examination, sollte man auf Unangenehmes gefasst sein: mehr oder weniger fett angesoffene Blutegel. Allzu lang darf man sich mit ihrer Entfernung freilich nicht aufhalten, denn die nächsten turnen sich schon wieder munter nach oben und sind nur schwer abzuschütteln.

Die kleinen Wunden bluten übrigens wegen der egeleigenen Hemmung der Blutgerinnung lange nach: Ruckedigu, Blut ist im Schuh. Und zu jucken beginnen die Bissstellen erst Tage später, lange nach dem Rückflug nach Kathmandu, der wieder den Blick auf die von unten in Nebel und Wolken gehüllten Achttausender ermöglicht.

Der Manaslu (links), vom Flieger zurück nach Kathmandu aus betrachtet.
Klaus Taschwer

Wenn die kleinen Souvenirs am Knöchel dann verschwinden, wird auch auch der Monsun endlich zu Ende gegangen, und die Blutegel rund um den Annapurna wie vom Erdboden verschluckt sein, wie uns die nepalesischen Begleiter versichern. Nur ist man dann schon nicht mehr in Nepal. Aber vielleicht wieder 2016. Nur eher nicht zur Blutegelzeit. (Klaus Taschwer, Rondo, 9.10.2015)