Vermutlich hat sich der Mann einfach über mich lustig gemacht. Es sei ihm gegönnt. Trotzdem wäre ich ihm für eine Auflösung des Witzes am Schluss unseres Gespräches dankbar gewesen. Oder meinte der Mann am Stand des Vienna City Marathons auf der Marathonmesse in Berlin tatsächlich, was er gesagt hatte? "Wir wissen wirklich nicht, wie die Berliner es hinkriegen, dass das mit den Startblöcken so gut funktioniert", sagte er nämlich. Und es klang für mich nicht wie ein Scherz.

Ich helfe gern. Deshalb kommt hier ein zweiter kleiner Rückblick auf den Berliner Stadtmarathon. Zu den Begleitgeräuschen jeder größeren Laufveranstaltung gehört heutzutage die Marathonmesse. Um die Startnummer abzuholen, muss man da durch. In Berlin findet die Messe am Flughafen Tempelhof statt: Drei Hangars voll mit Ausstellern – und noch ein paar am Vorfeld und in der Abfertigungshalle.

Foto: Thomas Rottenberg

Neben Herstellern von Sinnvollem wie Sinnbefreitem (Die Geschäftsidee "Medaillenhaken-nach-Maß" war mir bis dato fremd) präsentieren sich dort auch Marathonveranstalter. Also auch Wien: Der Stand des VCM ist groß und nicht zu übersehen. Jeder, der bei der Haupt-Currywurst-Bude am Vorfeld ansteht, schaut eine Viertelstunde auf DAS zentrale Bild des Wien-Laufes: Die knackevolle Reichsbrücke. Imposant. Es nicht zu verwenden wäre grotesk.

Massen in Wien.
Foto: Thomas Rottenberg

Was die Berliner Wurst-Warter nicht wissen: Dieses Bild zeigt einen der Hauptkritikpunkte am Wiener Marathon. Denn nur hier bekommt der Veranstalter so viele Läufer ins Bild, wie es braucht, um Vokabel wie "imposant" zuzulassen: Tatsächlich beenden in Wien ja nur 6.000 bis 7.000 Läuferinnen und Läufer den Marathon. Alle anderen starten für Staffel und Halbmarathon.

Zum Vergleich: In Berlin dürfen sich heuer 37.000 Menschen "Marathon-Finisher" nennen. Exklusive Inline-, Rollstuhl- und Handbikern – obwohl diese ja auch die 42 Kilometer absolvieren. Eine Halbdistanz gibt es in Berlin schon auch – am 3. April (30.000 Startplätze).

Inlineskater in Berlin.
Foto: Thomas Rottenberg

In Wien müssen Behinderte und Skater draußen bleiben. Stattdessen werden Halb- und Vollmarathonis und Staffelläufer gleichzeitig ins Rennen geworfen. Ist mühsam, schaut super aus. Beim Start und unterwegs: Ohne Staffelläufer wäre die zweite Hälfte der Wiener Strecke so leer wie die erste Hälfte durch Halbmarathonis und zwei Staffel-Etappen überfüllt und immer wieder vestopft ist.

Grund für die Staus, Slalom und Stockungen ist jenes Thema, zu dem der Betreuer des Wien-Standes in Berlin erklärte, dass man nicht wisse, "wie die Berliner das hinkriegen": die Sache mit den Startblöcken.

Überspitzt formuliert funktioniert ein Lauf-Starterfeld so wie in der Formel I: Die ganz Schnellen vorne – und die nicht ganz so Schnellen dahinter nach Leistung gestaffelt. Newcomer müssen sich nach vorne arbeiten. Deshalb muss man bei der Anmeldung zu Laufevents (nachprüfbare) Bestzeiten angeben – und wird dem "passenden" Startblock zugeteilt.

Eine Frage der Fairness

Sich richtig einzuordnen wäre da eine Frage der Fairness. Aber es dient auch der eigenen Psychohygiene: Jener Bekannter, der sich heuer beim Wachau-Marathon als solider Zwei-Stunden-15-Läufer in die erste Reihe des Blockes der 1.40er- bis 2.00er-Läufer stellte, schwor nach dem Lauf, das "nie wieder" zu tun. "Es ist super frustrierend, wenn du nur überholt wirst und nie in einem Pulk bist, der ungefähr dein Tempo läuft." Außerdem verbrennt man so: Der gute Mann hängte sich an die falschen, weil zu schnellen, Überholer – und ging auf halber Strecke ein. Statt an der Zweistundengrenze schrammte er an den Zweieinhalbstunden.

Selber Schuld. Und: Mittelgroße Läufe wie die Wachau verkraften einzelne Startblockhopper. Denn meist ist rund um sie genug Platz, um vorbeizukommen. Weil es – statistisch – nicht so viele sind, dass sie die Strecke signifikant blockieren könnten.

Wachau-Marathon.
Foto: Thomas Rottenberg

Dort, wo wirklich viele Menschen laufen, ist das anders: Wenn vier Leute nebeneinander schleichen, wird es für 100 dahinter schnell laufende mühsam. Und wenn ein Lauf 30.000 Starter oder mehr hat, muss man weder Statistiker noch Psychologe sein, um zu erkennen, dass da wohl ein- oder zweihundert Nasen dabei sein werden, die das "Fair Play" beim Start ignorieren. Erst recht, wenn sie wissen, dass die Regeln nicht kontrolliert und ihr Bruch nicht sanktioniert wird: Menschen sind so. Überall.

Ich bin noch nicht bei vielen wirklich "großen" Läufen angetreten. Aber auch bei den "mittleren" – zweimal beim Wings-for-Life-Worldrun und zweimal beim Marathon von Palma – tat zumindest irgendwer so, als würde der Zugang zum Start kontrolliert. Wer "schummeln" wollte, musste über einen hüfthohen Zaun kraxeln. Immerhin.

Foto: Thomas Rottenberg

Bei meinen "Großen" (zweimal Berlin, einmal New York) waren die Zäune dann zwei Meter hoch. Und ich bin nicht sicher, ob ich am Weg in meinen Block zwei oder drei Mal gebeten worden bin, doch den auf meiner Startnummer aufgedruckten Farb- oder Buchstabencode vorzuzeigen.

Klar: Kontrolliertwerden ist nervig. Wie Vieh in einem mannshoch eingezäunten Gehege eingepfercht zu stehen auch. Aber: Man konnte überall laufen. Von Anfang an. Ohne mühsames Dauerzickzack an – gefühlt – stehenden Menschen vorbei. Und zwar praktisch vom ersten bis zum letzten Meter.

Startblock in New York.
Foto: Thomas Rottenberg

Nur Wien ist anders: Wer sich schlecht oder falsch eingeordnet fühlt, kann bei der Nummernausgabe einen neuen Startblock verlangen. Ich habe es gesehen – und dann auch gleich selbst versucht: Um in den ersten Block vorgereiht zu werden, genügte ein "ich will aber lieber weiter vorne starten" auf der Messe.

Foto: Thomas Rottenberg

Wohl auch, weil jeder weiß, dass egal ist, wo man zugeteilt ist: Man stellt sich ohnehin hin, wo man möchte. Und weil auch das jeder weiß, drängeln dann nicht nur die Selbstüberschätzer nach vorne, sondern auch viele, die eigentlich "ehrlich" laufen würden – wenn die anderen es zuließen. Ein Dominoeffekt.

Das Fazit ergibt dann das Megabild auf der Reichsbrücke: "Imposant". Und immer wieder "Verstopfungen" unterwegs: Während sich Läuferfelder anderswo rasch aufgrund der unterschiedlichen Grundtempi auseinanderziehen, bilden sich in Wien an neuralgischen Punkten "Pfropfen". Das ist so mühsam wie unnötig.

Nicht, dass irgendetwas davon neu wäre. Das Faszinierende ist, dass es jedes Jahr wieder passiert. Und die Veranstalter des Marathons in Wien auf diese immer gleichen Hinweise und Beschwerden von Läufern, die in Wien eigentlich gerne laufen, ebenso wenig reagieren wie auf Hinweise von Trainern oder anderen Veranstaltern.

Neu an der Sache ist für mich aber doch eines: dass die Macher des Vienna City Marathons allem Anschein nach wissen, dass es das Problem gibt – sie es aber in den 32 Jahren, die es den VCM nun gibt, nicht geschafft haben, den Kollegen in Berlin jenes Geheimnis zu entlocken, das das Starten und Laufen dort so entspannt macht. Dabei besteht das nur aus einem einzigen Wort: Zäune.

Oder der Mann am VCM-Stand hat mich einfach verarscht. (Thomas Rottenberg, 8.10.2015)

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