Von dem berühmten "Mantel der Geschichte", den der frühere deutsche "Einheitskanzler" Helmut Kohl im Herbst 1989 nach den Umbrüchen im Osten durch Europa wehen sah und dessen "Zipfel" er beherzt ergriff, war am Mittwoch im Europäischen Parlament wenig zu spüren. Auch an die rhetorische Brillanz des verstorbenen französischen Präsidenten François Mitterrand kommt unter den politischen Anführern der Union 26 Jahre später kaum jemand heran. Es dominieren in der Arena vor allem die Vereinfacher, die Populisten von rechts und links.

Daher war der in Straßburg unter den EU-Abgeordneten als "historisches Ereignis" eifrig vorausinszenierte gemeinsame Auftritt der beiden Nachfolger Angela Merkel und François Hollande auch eher enttäuschend. Die beiden haben rundum ordentliche, "brave" Reden gehalten.

Die wichtigsten Probleme unserer Zeit – Kriege in der Nachbarschaft, die Flüchtlingstragödie, die Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit – wurden angesprochen, meist aber nur beschrieben und umschrieben, mit einen paar moralischen Aufmunterungen garniert. Nach konkreten Lösungsansätzen, nach klaren Vorgaben und Zielen suchte man vergebens. Kein Zehn-Punkte-Plan wie einst von Kohl für Deutschland, kein starkes gemeinsames Papier von Paris und Berlin, das als Steilvorlage für die wankenden und zankenden EU-Partner eingestuft werden kann. Viel Kleinkram, wenig Vision für Europa: eine verpasste Chance. (Thomas Mayer, 7.10.2015)