Die Besiegten werden ihrer Stimmen beraubt, schreibt die Künstlerin Yevgenia Belorusets über ihre Fotos, die 2014/15 im Osten der Ukraine gemacht wurden.

Foto: Yevgenia Belorusets

Fotografin Belorusets: "Die Serie entstand auf dem Schlachtfeld Ostukraine, zum Teil direkt an der Frontlinie. Dass es sich dabei auch um eine Linie des Friedens, des Nichtkrieges handelte, war in erster Linie für mich selbst von Bedeutung."

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"Er fuhr tausend Meter in die Tiefe und hoffte, der Aufzug würde durch keine Granate beschädigt, wenn er wieder auffahren wollte ..."

Foto: Yevgenia Belorusets
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Katja Petrowskaja, geb. 1970, wuchs in der Ukraine auf, studierte Literaturwissenschaften und Slawistik und gewann mit "Vielleicht Esther" 2013 den Bachmannpreis. Sie lebt in Berlin.

Foto: Arno Burgi / dpa Picture Alliance / picturedesk.com

Yevgenia Belorusets, geb. 1980, ist eine ukrainische Künstlerin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Kiew und Berlin und ist Mitbegründerin der Zeitschrift "Prostory".

>>> Weiterlesen: Yevgenia Belorusets über den absurden Alltag in der Ostukraine.

Die Bachmannpreisträgerin 2013, Katja Petrowskaja, ist derzeit Gast im Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien. Sie, die aus der Ukraine stammt und in Berlin lebt, verbringt als Stipendiatin einen Monat hier. Nach Vielleicht Esther, einem Roman über die Geschichte ihrer Familie, interessierte sie "Alles, was der Fall ist". Am Vortag, erzählt sie aufgeregt, war sie in der Augustinerkirche in Haydns Jugendmesse. In der Predigt wurde Martin Buber mit seinem "allwichtigen Leben der Begegnungen" zitiert. In der Kirche stand ein Mann, der genau wie einer aus Michelangelo Antonionis Film Blow-Up aussah. Vor der Kirche liefen jüdische Buben, orthodox gekleidet und riefen "Chag sameach" (hebr.: Schöne Feiertage). Daneben: Japaner, die Chag als "Hug" (engl.: Umarmung) verstanden und sich in die Arme fielen.

Petrowskaja: "Das war eine fertige Erzählung wie eine Szene aus James Joyce' Dubliners. Ich müsste mich nur hinsetzen und alles aufschreiben.

STANDARD: Sie schreiben keine Literatur, haben Sie nach der Verleihung des Bachmannpreises gesagt. Ihr Buch ist aber doch ein Familienroman, oder?

Petrowskaja: Ich hatte, als ich zu schreiben begann, auf keinen Fall einen literarischen Anspruch. Eigentlich stand ein Brief am Anfang. Ich erzähle jedes Mal eine andere Geschichte darüber, wie mein Buch entstanden ist. Aber alle Versionen stimmen.

STANDARD: Welche Version erzählen Sie diesmal?

Petrowskaja: Dass ich vor mehr als zehn Jahren in einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin war. Sie hieß Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Ich kam mit dem Kurator ins Gespräch – über den 8. Mai, das Ende des Zweiten Weltkriegs, der in Russland als Siegestag gefeiert wird, in Deutschland Befreiungstag heißt. Putin hat 2005 diesen Tag im ideologischen Sinne wieder neu instrumentalisiert. Mir war schon damals klar, dass mit Putin die Perestrojka zu Ende ging. Siegestag? Als wäre Russland nur Sieger und an nichts schuld.

STANDARD: Wer genau trägt Schuld und woran?

Petrowskaja: Wir. Mit "wir" meine ich uns Menschen der Exsowjetunion. Jeder, der zu einem Land gehört, trägt ja auch dessen Geschichte in sich. Ich bin in der Sowjetunion geboren mit all ihren Errungenschaften und Sünden. Das zu vermitteln, war mir so wichtig, dass ich dem Kurator einen Brief schrieb darüber, was der Zweite Weltkrieg für mich bedeutet.

STANDARD: Was genau?

Petrowskaja: Geschichten, die in der Sowjetunion verschwiegen wurden, die in meiner Familie passiert waren. Da war meine Großmutter Rosa mit ihrem Waisenhaus für taubstumme Kinder, da waren Ljolja und Anja, die in Babyn Jar in Kiew ermordet wurden, weil sie Juden waren. Da war mein Großvater Wassilij, der in Kriegsgefangenschaft in Österreich war. Diese Familiengeschichten sollten zeigen, dass der Siegestag von vielen Lügen umgeben war. In der Sowjetunion wurde nie über Kriegsgefangenschaften oder den Holocaust gesprochen.

STANDARD: Worüber genau wurde nicht gesprochen?

Petrowskaja: Es wurde nicht darüber gesprochen, dass wir durch den Hitler-Stalin-Pakt unseren Anteil am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten. Der sowjetische Kriegsmythos bestand aus vielen Wahrheiten und vielen Unwahrheiten. Durch den Brief an den Kurator habe ich zum ersten Mal verstanden, dass meine Familiengeschichten jene waren, die nicht Teil des Kriegsmythos waren und deshalb eine Story sein könnten.

STANDARD: Wurde in Ihrer Familie über den Krieg gesprochen?

Petrowskaja: Meine Mutter ist Historikerin, mein Vater Literaturwissenschafter: Sich mit historischen Ereignissen zu beschäftigen bedeutete, ein Gewissen zu haben. Es ist eine Frage des Anstands. Recherchieren, verstehen. In unserer Familie wurde über alle Schmerzpunkte gesprochen – sogar zu viel. Das zeichnete die sowjetische Intelligenzija aus, unterschied uns von der offiziellen Ideologie. Stalin, Ungarn 1956, Prag 1968, der Krieg in Afghanistan: Darüber zu reden bedeutete, ein historisches Gewissen zu haben. Wer ein Gewissen hatte, fühlte sich einer Gruppe zugehörig.

STANDARD: Was bedeutete das?

Petrowskaja: Wir haben uns in unsere Welt zurückgezogen. Meine Mutter hatte anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Kiewer Schule, in der sie arbeitete, in ihrer Funktion als Geschichtslehrerin ein Schulmuseum in den 1970er-Jahren gestaltet. Wir konnten alle damals sehen, dass 1932 plötzlich viele jüdische und armenische Kinder dorthin kamen, weil alle Nationalschulen in der Sowjetunion geschlossen wurden, oder dass Jugendliche 1941 direkt in den Krieg gingen. Es hat stattgefunden, wurde offiziell nicht erzählt. Mit diesem Museum hat meine Mutter kleine Geschichten erzählt und damit Licht auf das große Ganze geworfen.

STANDARD: Ohne Folgen?

Petrowskaja: Es gab vieles, was nebeneinander existierte – auch der Traum, dass wir alle zusammengehören: Georgier, Armenier und Esten. Als Kinder wussten wir nichts über die Unterdrückung dort, aber der Mythos der sowjetischen Freundschaft war für viele real. Es war eine extrem widersprüchliche Gesellschaft. Meine Kindheit war glücklich, weil die Sowjetideologie die Kinderkultur unglaublich förderte. Die haben wir genossen. Alles war kostenlos. Es gab tolle Kinderfilme, Musicals, Bücher. Die Widersprüchlichkeit der sowjetischen Gesellschaft macht es schwer, zu erklären, wie dieses Leben zwischen Unterdrückung und Begeisterung ablief.

STANDARD: Ist Ihre Familiengeschichte keine Spurensuche?

Petrowskaja: Ja und nein. Es sind Geschichten, mit denen ich groß geworden bin. Wir interessierten uns aber nicht sehr dafür. Es gab so vieles andere. Die Beschäftigung mit der Familie ist unter Umständen auch ein Syndrom, das mit dem 40. Lebensjahr beginnt. Historisches Schweigen hat mitunter einfach auch etwas mit dem Generationswechsel zu tun.

STANDARD: Wie stand Ihr Vater zum Krieg?

Petrowskaja: Mein Vater war ein Kriegskind, das durch einen Zufall gerettet wurde. Er musste nicht zur Armee, weil er stark kurzsichtig ist. Krieg war für ihn das Schlimmste. Doch es gab ein schwarzes Schaf in unserer Familie, den Attentäter Judas Stern. Er hat auf einen Menschen geschossen, und dafür schämte sich mein Vater.

STANDARD: Was haben Ihre Eltern gesagt, als sie seine Geschichte in Ihrem Buch gelesen haben?

Petrowskaja (lacht): Meine Eltern können kein Deutsch. Deshalb habe ich auch auf Deutsch geschrieben. Ich habe erst mit 27 Jahren begonnen, diese Sprache zu lernen. Ich bin zwischen Liedern von Johann Sebastian Bach und "Hände hoch" groß geworden. Das war die deutsche Sprache, die ich kannte, weil ich im Chor sang und Kriegsfilme anschaute. Deutsch ist für mich ein Mittel geworden, um wieder Kind zu sein, ganz unschuldig auf die Dinge zu blicken, Gewalt nicht zu akzeptieren. Auf Deutsch bin ich viel jünger als auf Russisch. Mein Roman ist ein Buch über die Unschuld der Sprache. Jeder, der mit Deutschland zu tun hat, stellt sich die Frage "Wie konnte das damals passieren?". Ich könnte die gleiche Frage auch in Russland stellen, aber das passierte dort kaum.

STANDARD: Worum geht es Ihnen?

Petrowskaja: Ich wollte nicht in der Problematik, wer Opfer und wer Täter ist, bleiben. Deshalb habe ich die sowjetisch-jüdische Geschichte meiner Familie auf Deutsch geschrieben. Dafür brauchte ich einen Raum, den ich mir in diesem Buch geschaffen habe. Mein Gefühl ist: Wir bewegen uns in einer gemeinsamen Landschaft, und der Zweite Weltkrieg hat Blutsbande geschaffen – im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Das Blutbad hat uns für immer miteinander verbunden. Keine Seite kann aussteigen.

STANDARD: Warum spielt die Antike in Ihrem Buch eine Rolle?

Petrowskaja: Ich habe ein eigenartiges Phänomen an mir beobachtet. Immer wenn ich bei der Arbeit an meinem Buch nicht weiterkam, fielen mir antike Mythen ein. Sisyphos, Achilles. Ich denke, dass der Zweite Weltkrieg so etwas wie unsere Antike ist, eine Art Bezugspunkt, eine Unfassbarkeit, ein Raum der Affekte, die uns verbinden. Die Menschen und Nationen tendieren dazu, Mythen zu entwickeln, von allen Seiten. Das ist wie ein Sog. Das Buch ist ein Abbild. Es gibt Familiengeschichten, Halbmärchen, Legenden, Nacherzählungen und historische Tatsachen. Es hat viele Ebenen. Sie streiten nicht miteinander, stehen nebeneinander und haben alle ihre Existenzberechtigung.

STANDARD: Wie sehen Sie die Situation heute?

Petrowskaja: Als Putin an die Macht kam, war klar, dass die Siegerideologie wiederbelebt wird. Er erstickte jede Aufklärung im Ansatz. Stattdessen tauchten die Phantomschmerzen eines großen Imperiums wieder auf, der Mythos von Stärke.

STANDARD: Ist für Russland Krieg ein Mittel, um Stärke zu beweisen?

Petrowskaja: Ja. Am Anfang steht immer das Wort. Heute ist es Propaganda. Zuerst sagt man: Es gibt die West- und die Ostukraine. Dann sagt man: Die Krim gehört uns. Dann sagt man: Die anderen sind Faschisten. Man drückt auf bestimmte Knöpfe, und plötzlich wird es so laut, dass niemand mehr etwas hört. Teile der Ukraine sind heute besetzt. Russland führt Krieg gegen die Ukraine.

STANDARD: Sind sie ein politischer Mensch?

Petrowskaja: Ja, sehr. Auch mein Buch ist politisch. Aber politisch zu sein bedeutet nicht, die politische Rhetorik zu beherrschen. Ich schreibe über die Ukraine. Ich wohne in Berlin, bin aber oft in Kiew. Meine Eltern leben dort. Ich kenne die sowjetische Ideologie aus alten Zeiten und erlebe hautnah, mit welcher Geschwindigkeit sich die russische Propaganda fortpflanzt. Ich kann also erklären, was in der Ukraine passiert.

STANDARD: Was genau?

Petrowskaja: Lange Zeit hat man sich alles gefallen lassen. Aber dann ist da dieser eine Moment auf dem Majdan im November vor zwei Jahren, da die Menschen sich wehren. Janukowytsch gab den Befehl, Studenten zu erschlagen. Das haben sich die Kiewer nicht gefallen lassen. Die Kiewer wollten sich nicht mehr ins Gesicht spucken lassen. Da geht es um Würde. Ich war unendlich stolz.

STANDARD: Warum ist die Meinungsbildung von außen so schwierig?

Petrowskaja: Nach der Schließung von Tschernobyl 1994 haben alle Journalisten die Ukraine verlassen. Es gab kaum mehr jemanden, der aus diesem Land berichtete. Zudem war die Ukraine auch strategisch nicht mehr wichtig. Die Ukraine hatte sich im Budapester Memorandum einseitig von Atomwaffen verabschiedet. Dass Russland die Krim erobert hat, hängt damit zusammen. Alle großen Medien haben ihre Korrespondenten nur mehr in Moskau oder Warschau. Über solche fatalen medienstrategischen Entscheidungen in westlichen Demokratien wird aber auch nicht geredet.

STANDARD: Hat die russische Propaganda deshalb solch einen Erfolg?

Petrowskaja: Das erzählt der US-Historiker Timothy Snyder am besten. Das Spiel funktioniert so: Als Erstes sagen die Russen: Wir sind gar nicht in der Ukraine. Dann sagen sie: In der Ukraine ist Faschismus, deshalb sind wir da. Und dann: Faschismus ist eigentlich gar nicht schlimm. Das alles läuft parallel. Widersprüchliches zu streuen ist der älteste Trick der sowjetischen Propaganda! Wenn es keine Korrespondenten gibt, fällt man darauf rein. Die Menschen schauen nicht in den Osten. Wie können sie also wissen, was dort los ist.

STANDARD: Wo fühlen Sie sich zu Hause?

Petrowskaja: Ich liebe Kiew und Moskau. Mein Gefühl, mich zu Hause zu fühlen, hat wenig mit dem Ort zu tun, an dem ich lebe. Die Sowjetunion hat uns insofern geimpft, als ich mich niemals mit einem Staat identifizieren könnte. Mein Vater ist auch so. Die Folge einer solchen Einstellung ist eine Verlorenheit. Für jede Freiheit bezahlt man. Man ist ein bisschen überall und nirgendwo zu Hause.

STANDARD: Macht Sie das zu einer Außenseiterin?

Petrowskaja: Was zählt, ist, mit wem man mitfühlt. Das bestimmt die eigene seelische Typologie. Ich spreche Deutsch und Russisch, das sind zwei Okkupationssprachen. Wenn ich in Polen recherchiere, ist mir das bewusst. Aber genau dort suche ich meine jüdischen Vorfahren. Insofern könnte ich also den Russen, Polen und Deutschen gleichermaßen böse sein. Nur: Ich bin es nicht. Ich bin nicht böse.

STANDARD: Worauf sind Sie stolz?

Petrowskaja: Darauf, dass ich solche Eltern habe.

STANDARD: Auf die kulturelle Identität, die Sie mitbekommen haben?

Petrowskaja: Nationale, ethnische und topografische Identität sind bestimmende Dinge. Sie formen unsere Liebe, unsere Wahrnehmung. Da gibt es aber auch die Freiheit, diejenige zu sein, die man sein will. Ich habe zufällig über meine Familie geschrieben und nicht über Einhörner, obwohl ich nicht nur meine Eltern, sondern auch das Mittelalter liebe. Meine Herkunft ist wichtig, aber ich will nicht darauf reduziert werden.

STANDARD: Aber Sie spielen doch genau mit dem Zusammentreffen zweier Kulturen, vor allem sprachlich. Macht das Hinterfragen nicht Ihre Arbeit aus?

Petrowskaja: Ich könnte sagen, dass ich das Buch geschrieben habe, um nicht mehr fassbar zu sein, nicht in Stereotypen zu versinken. Die deutsche Sprache ist Ausdruck des Wunsches nach Freiheit. Es ist das einzige fiktive Stilmittel, das ich mir in meinem Buch erlaube. Wenn man die Regeln einer Welt nicht kennt, richtet man seine Aufmerksamkeit zum Beispiel auf den Klang. Man findet andere Verbindungen, weil die Welt klingt und die Sprache schmeckt. Es ist eine Entfremdung von Funktionalität.

STANDARD: Ist es nicht sehr schwierig, in einer fremden Sprache zu schreiben?

Petrowskaja: Extrem. Aber gerade um diese Mühe geht es. Je schwieriger, umso wahrer. Es ist eine große Anstrengung, eine Sprache zu erobern. Es ist mein friedlicher Feldzug, mein Weg, eine Umkehrung für einen tiefsitzenden Diskurs der Kulturen zu finden.

STANDARD: Wohin führt Sie Ihre Reise weiter?

Petrowskaja: Das wüsste ich auch sehr gerne. (Karin Pollack, Album, 17.10.2015)