Der demografische Wandel stellt Europa vor große Herausforderungen im Pflegebereich. Dazu gehören auch kulturelle Verschiedenheiten. Die alte Generation mit ihren unverarbeiteten Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg wird zum Teil von "ehemaligen Kriegsgegnern" betreut.

Foto: Eva Maria Griese

Klagenfurt – "Ich glaub, alt ist man, wenn man keine Wünsche mehr hat, nicht mehr fähig ist, sich selbstständig zu bewegen, alles für sich selbst zu machen, so gut wie möglich. Dann – und wenn man keine Träume mehr hat. Ich glaub, dann ist man alt". Die 82-jährige anonyme Studienteilnehmerin, die hier spricht, verbindet Altsein nicht – wie viele jüngere Menschen – mit der Zahl der Lebensjahre, sondern mit den Fähigkeiten, die man verliert. Sie fühlt sich vielleicht noch gar nicht alt.

"Alt sein wird von betagten Menschen mit Zerbrechlichkeit, mit dem Verlust von Autonomie, dem Übergang zum Tod verbunden. Sie sehen Alter als etwas, das nichts mit ihnen, mit ihrem Selbstkonzept zu tun hat", sagt Regina Klein, Professorin für Gesundheits- und Pflegesoziologiean der FH Kärnten. "Altsein ist weit weg von mir – die letzte Lebensetappe kurz vor dem Tod."

Dieses Selbstverständnis von – nach Jahren – älteren Menschen ist eines der Ergebnisse von Befragungen, die im Rahmen des EU-Projekts Ellan ("European Later Life Active Network") durchgeführt wurden. Regina Klein und ihre Kolleginnen des Studiengangs Gesundheits- und Pflegemanagement der FH Kärnten sind daran beteiligt. Insgesamt sollen 26 Hochschulen aus ganz Europa in dem Projekt Herausforderungen eruieren, die für alle Menschen gelten, die in dem Bereich professionell tätig sind, etwa Pflegepersonal, Therapeuten, Sozialarbeiter oder Diätassistenten. Bis zum Projektende 2016 wird ein grundlegendes Gerüst an Kernkompetenzen erarbeitet, das über Länder und Kulturen hinweg gültig ist und Eingang in die Lehre finden soll. In einer alternden, zunehmend pluralistischen Gesellschaft soll so auch der soziale Zusammenhalt gestärkt werden.

Nicht nur Ergebnisse aktueller Forschung wurden dazu gesammelt, sondern auch Studierende, Pflegepersonen sowie Seniorinnen und Senioren zu ihren jeweiligen Sichtweisen befragt. In Kärnten wurden 16 Menschen im Alter zwischen 65 und 85, darunter die zitierte 82-Jährige, interviewt.

"Viele alte Menschen haben Angst, ihre Fähigkeiten zu verlieren; dass sie nicht mehr hören, sprechen, nicht allein essen können", resümiert Klein. "Dieser Identitätsverlust, dass alles abfällt, was eine Person ausmacht, wird als beängstigend beschrieben." Um den Ängsten entgegenzuwirken, sei es wichtig, die biografische Kontinuität auf möglichst vielen Ebenen zu erhalten. "Der Wunsch der Menschen ist, dass die vielfältigen Übergänge, denen sie unterworfen sind – der Verlust von Fähigkeiten, von vertrauten Menschen, der Wechsel in ein Seniorenheim – begleitet wird", erklärt Klein. "Pflegende sind dabei wichtige Referenz- und Bezugspersonen. Niemand will zum Bett fünf auf Zimmer Nummer vier degradiert werden."

Die sozialen, kommunikativen und organisatorischen Kompetenzen für die Arbeit in der Betreuung und Pflege, die das Ellan-Projekt erhebt, sollen so offen sein, dass sie in jeder Kultur anwendbar sind. Es soll ein Common Sense, aber keine standardisierte Gleichheit hergestellt werden, so Klein. "Das ist schon deshalb wichtig, weil wir nicht davon ausgehen können, dass etwa Österreich nur eine Kultur hat. Die nächste ältere Generation ist multikulturell." Die Thematisierung der kulturellen Verschiedenheiten könnte zu einem Folgeprojekt von Ellan werden.

In den interkulturellen Aspekt von Pflege spielt auch ein zeitgeschichtlicher Umstand hinein. Der Zweite Weltkrieg hinterließ eine Generation kriegstraumatisierter Männer. Die früheren Soldaten hatten keinen Raum, ihre Traumata zu besprechen, geschweige denn zu therapieren – was auch verhindert hat, dass die folgenden Generationen aus den Erfahrungen lernen konnten. "Nicht bewältigte Traumata können Symptome zeigen, die man mit Demenz verwechseln kann."

Unverarbeitete Kriegstraumata

Dazu kommt, dass diese alte Generation derzeit zum Teil von "früheren Kriegsgegnern" betreut wird, sagt Klein. In Deutschland sind es etwa polnische, in Österreich slowenische, slowakische und ungarische Pflegepersonen. Das kann zu Konflikten führen, weiteres Verdrängen begünstigen, aber auch zu einer nachhaltigen Verarbeitung führen.

Der demografische Wandel wird es Europa künftig nicht einfacher machen, Pflege zu organisieren. Ein 75-jähriger Interviewpartner aus der Studie antwortete auf die Frage, was er nicht gern erleben möchte: "Für jeden Menschen gibt es eine einzige Schreckensvision, das ist Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein." (Alois Pumhösel, 21.10.2015)