Ein weißer Strich sollte die Mauer wieder sichtbar machen: In "Striche ziehen" blickt Gerd Kroske zurück auf die Berliner Kunstaktion von 1986 und ihre Folgen.

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Gerd Kroske dokumentiert deutsche Zeitgeschichte.


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Am 4. November 1986 begannen fünf Freunde, die gerade aus der DDR nach Westberlin übersiedelt waren, einen weißen Strich quer über die Mauer zu ziehen – zum Ärger der DDR-Grenzer, die eine freche Verschiebung der Demarkationslinie befürchteten: Am zweiten Tag verhafteten sie am Lenné-Dreieck einen der Maler.

Gerd Kroskes Dokumentation erzählt von dieser Aktion sowie einer zweiten Geschichte dahinter: Einer der jungen Punks hatte der Stasi in Weimar bis zu seiner Ausreise Informationen geliefert. Erst 2010 kam die Bespitzelung heraus. Striche ziehen betrachtet aus 30 Jahren Abstand diesen Verrat und holt den Informanten Jürgen O., seinen Bruder und die Freunde von damals vor die Kamera. Ein spannungsreiches Panorama, das Kroske, der sein Filmstudium in der DDR zur Wende abschloss, mit Super-8-Filmen, Fotos und hämmerndem Punk-Score aus dem DDR-Underground lebendig macht. Aufarbeitung von Geschichte im intimsten Raum.

STANDARD: Im Mittelpunkt Ihres Films steht Weimars erste Punkgruppe, die Mitte der 1980er-Jahre von der Stasi zerschlagen wurde. Nach ihrer Übersiedlung nach Westberlin riskierten einige der Punks in einer Kunstaktion 1986 erneut ihre Freiheit an der Mauer. Wie sind Sie auf diese Geschichte gestoßen?

Kroske: Ich kenne Gerd Willmann und Anne Hahn (Herausgeber des Buches Der weiße Strich), und sie haben mich 2010 damit bekannt gemacht. Mir war klar, dass die Mauergeschichte relativ überschaubar und auserzählt war. Aber dann bekam ich mit, dass es diesen Verdacht gegen Jürgen O. gab, und ich habe mich lange bemüht, ihn von einer Mitwirkung im Film zu überzeugen. Ich habe natürlich begriffen, dass er das als Kommunikation zu den anderen nutzen wollte. Zuschauer des Films entwickeln jetzt oft sehr viel Verständnis für ihn, in einem Maß, das ich oft erstaunlich finde. Würde er das einmal miterleben, würde er wahrscheinlich seinen Freunden oder seinem Bruder viel offener gegenübertreten.

STANDARD: Im Buch "Der weiße Strich" kommt er nur über die Akten vor, über die Berichte der anderen: der erste Punk von Weimar, mit Doppelleben.

Kroske: Er war jemand, zu dem die anderen aufgeschaut haben, ein Local Hero. Nach einem Berlin-Ausflug bekam die Kreisdienststelle der Stasi in Weimar einen Tipp. Es gab einen richtigen Maßnahmenplan, wie sie ihn anwerben würden. Und das schaffen sie auch. Wie er sagt, dachte er, er wäre ihnen überlegen. Dann war er da drin. Für "Kohlengeld", wie er es nennt. Er lieferte regelmäßig Berichte ab, aber wollte später wieder raus. Letztendlich hat er es über die Wehrdienstverweigerung versucht und kam in den Militärknast, verurteilt zu zwei Jahren. Nach einem Jahr gibt's eine Amnestie. Aber als er seinen Ausreiseantrag stellen und auch seine schwangere Freundin mitnehmen wollte, sagte ihm die Stasi: "Daraus wird nichts! Du spitzelst jetzt weiter." Und das machte er auch, bis zum Tag vor der Ausreise.

STANDARD: Sie begleiten die Geschichte mit Super-8-Amateurfilmen, mit DDR-Punk-Songs der Ost-Band KG Rest und Fotos, die von den Protagonisten selbst stammen.

Kroske: Die Arbeit besteht darin, so etwas zu finden. Auch die Fotografien aus der Weimarer Zeit sollten die Fallhöhe zwischen dieser Jugendkultur und der parallel existierenden FDJ-Welt deutlich machen. Das ist heute ja schwer zu vermitteln.

STANDARD: Im Kino bewegen sich wieder einige Filmemacher zurück in diese Epoche, wie zuletzt Andreas Dresen mit "Als wir träumten" in die Wendezeit oder Oskar Roehler in die Westberliner 1980er-Jahre.

Kroske: Es geht inzwischen um Deutungshoheit. In Das Leben der Anderen schickt der Berliner Schulsenator die Leute ins Kino, so wie wir seinerzeit in Ernst-Thälmann-Filme geschickt wurden. Inzwischen gibt es da einen Kanon, mediale Klischees, die zur Geschichtserklärung herangezogen werden. Ich möchte dagegensteuern. Man muss nicht alles inszenieren. Es gibt auch in der Wirklichkeit spannende und plausible Geschichten.

STANDARD: Wie sehen Sie die Figur von Jürgen O.?

Kroske: Die Berliner Strichaktion, das muss man ihm auch zugestehen, hat er als eine Art Schlusspunkt für sich gesehen. Darüber hat er natürlich bis 2011 nicht geredet. Man merkt, dass ein wahnsinniger Riss durch ihn durchgeht. Man kann darüber heute gar nicht mehr so richten. Ich finde, das ist eine Charakterfrage, ob man sich darauf einlässt oder nicht. Grit, die auch für ein halbes Jahr in den Knast ging, erzählt im Film, dass man auch Nein sagen konnte.

STANDARD: Ihr Film geht über die Frage des Verrats hinaus, nicht zuletzt, weil Sie das Personal erweitern: Sie suchen den verantwortlichen Stasi-Beamten, und Sie reden mit dem Grenzer, der Wolfram Hasch bei der Malaktion festnahm.

Kroske: Man findet nur noch selten Leute, die so in der Verantwortung standen – und sich dazu äußern. Oft geraten sie in einen Rechtfertigungszwang. Da bin ich als Filmemacher besonders dankbar, wenn jemand mit vollster Überzeugung heute noch sagt: "Ja, das war mein Leben." Der Grenzer ist im selben Alter wie die Jungs. Jahrgang 1964. Erstaunlich, wie weit das auseinandergeht.

STANDARD: Was sagt Jürgen O. zum Film?

Kroske: Sein Resümee ist, dass er nun immer das "Verräterschwein" bleiben wird. Er bekommt das nicht hin: den Schritt, auf die Leute zuzugehen. Aber ich habe absoluten Respekt vor ihm, dass er bereit war, sich in den Film zu begeben.

STANDARD: Ihr Film führt bis nach Palästina, bis zur teilweise acht Meter hohen Sperranlage, die Israel in der Westbank errichtet hat.

Kroske: Ab 2011 tauchte auf der palästinensischen Seite ein blauer Strich auf. Da hatte jemand das Prinzip begriffen, das die deutschen Punks 1986 schon verstanden haben: dass man durch eine solche Markierung erst wieder das Bauwerk sichtbar macht, über die Graffiti hinweg. Wir haben tatsächlich noch Rudimente des Strichs gefunden – eine Idee, dass es für diese Geschichte auch noch eine Gegenwart gibt. (Robert Weixlbaumer, 27.10.2015)