Der niederländische Starfotograf Anton Corbijn, abgelichtet von seinem Kollegen Stephan Vanfleteren.

Foto: Stephan Vanfleteren

In London haben sie sich früher über Anton Corbijn lustig gemacht: "The Tall Dutchman" riefen die Journalisten den Fotografen. Weil sie sich den Namen nicht merken konnten. 30 Jahre später wird das nicht mehr passieren. Der wirklich hochgewachsene Holländer ist mittlerweile einer der bekanntesten Fotografen der Welt, er hat die Ikonografie von U2 und Depeche Mode maßgeblich mitgestaltet, mit George Clooney und Philip Seymour Hoffman Hollywoodfilme gedreht und wurde dieses Jahr mit einer großen Retrospektive in Den Haag geehrt. Die Ausstellung zieht nun weiter: in Anton Corbijns zweite Heimat Berlin. Dort sitzt der 60-Jährige auf einer großen Couch im Soho House, der Meister der Schwarzweißfotografie mag den Laura-Ashley-Touch des Hotels: "Mir gefällt Industrie-Chic", scherzt er.

STANDARD: Herr Corbijn, haben Sie als Fotograf stets Ihre Hasselblad dabei, wenn Sie durch Berlin gehen?

Anton Corbijn: Nein, mein Rücken ist inzwischen so kaputt, dass ich nichts mehr unnötig tragen will. Wenn mich ein Motiv fasziniert, nehme ich erst mal ein Bild mit dem iPhone auf.

STANDARD: Und dann posten Sie es auf Instagram?

Corbijn: Nein, meine Freundin hat sich auf dem Portal angemeldet, ich bin jetzt auf Facebook, aber das scheint schon wieder passé sein. Die Menschen fotografieren die ganze Zeit, sie müssen irgendwohin mit den Bildern. Prinzipiell bin ich nicht gegen moderne Technik, nur im Fall der Fotografie denke ich, dass das analoge Ergebnis schöner aussieht. Vom Standpunkt des Handwerkers ist es interessanter. Es fühlt sich als Teil eines Abenteuers an. Mit der Hand mache ich Fehler. Ich weiß nicht, ob das, was ich durch den Sucher sehe, auch am Ende das Foto zeigt.

Den Schelm in den Nacken setzte Anton Corbijn Sänger Tom Waits: Stillleben mit oranger Plastikpistole und Traktor (2004).
Foto: Anton Corbijn

STANDARD: Sie finden das Warten spannend.

Corbijn: Dieses kalkulierte Risiko gehört zu meinem Beruf. Auf eigene Kosten fliege ich nach Peking, treffe den Künstler Ai Weiwei für einige Minuten, mache meine Bilder, vertraue meine Kamera dem Röntgenapparat am Flughafen an und entwickle zu Hause den Film. Das ist ein großes Abenteuer, bei dem vieles schiefgehen kann. Die Gesellschaft propagiert heute unmittelbare Belohnung. Ich bevorzuge es, meine Befriedigung später zu bekommen.

STANDARD: Berühmt wurden Sie mit grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen von Musikern. Eines Ihrer ersten Motive war Ihr Landsmann Herman Brood. Sie nahmen in den 70er-Jahren Bilder von ihm auf, wie er sich Heroin spritzte. 2002 stürzte er sich vom Dach eines Hotels in Amsterdam, weil er mit seiner Drogensucht nicht mehr klarkam.

Corbijn: Ich zeige diese Bilder nicht mehr öffentlich, weil Jugendliche sonst denken, dass Heroin cool sei. Sie müssen die Zeit verstehen. Die 70er-Jahre in Holland waren ein Jahrzehnt, in dem Drogenkonsum geduldet wurde. Ich würde mir nie etwas in meinen Körper injizieren, aber Herman war ein Rockstar, das gehörte dazu.

STANDARD: Blendeten Sie die Welt aus, wenn Sie durch den Sucher guckten?

Corbijn: Es war meine Art, an ihr teilzuhaben. Auch wenn ich unsichtbar blieb. Obwohl ein Teil von mir auch gesehen werden wollte. Ich wollte meine Bilder veröffentlichen.

Zwei Welten, derselbe Fotograf: Anton Corbijn fotografiert Topmodel Christy Turlington (1993), als wäre sie Tarzans Jane.
Foto: Anton Corbijn

STANDARD: Sie begannen 1982, mit U2 zu arbeiten. War das ein bewusster Karriereschritt, um im Rockgeschäft wahrgenommen zu werden?

Corbijn: Nein. Ich mochte ihre Musik gar nicht, als ich zum ersten Mal mit ihnen arbeitete, aber ich lernte, die Menschen in der Band zu mögen. Es war ein Auftrag für den "New Musical Express". Ich habe ihn nur angenommen, weil die Aufnahmen in New Orleans stattfinden sollten und mich die Stadt interessierte. Dasselbe passierte übrigens 1986 mit Depeche Mode. Die Band hat mich fünf Jahre lang bekniet, ein Video für sie zu drehen. Ich sagte erst zu, als es hieß, der Clip müsse in Amerika gedreht werden. Das wurde dann "Question of Time".

STANDARD: Sie sind berechnend.

Corbijn: Absolut. Als ich zu meinem Treffen mit U2 nach New Orleans flog, hörte ich auf dem Walkman ihr Album "October" an. Oh Gott! Hat mir überhaupt nicht gefallen. Ich dachte, ich würde die Band abends kurz auf dem Schiff treffen, wo sie ein kleines Konzert gaben, und mich dann in die Bars der Stadt verdrücken. Was ich nicht wusste: dass das Schiff ablegen würde. Ich war also auf dem Kahn gefangen, musste mir das ganze Konzert anhören und habe irgendwie dieses Boot nie wieder verlassen. Wir verstanden uns ziemlich gut, am nächsten Tag saß ich schon mit ihnen im Bus nach Texas. Und als sie das nächste Mal Fotos für eine Platte brauchten, fragten die Jungs nach mir.

STANDARD: Seitdem haben Sie jedes Album für die Band fotografiert. Einige Bilder sind ab dem 8. November in Ihrer Retrospektive in der Galerie c/o Berlin zu sehen ...

Corbijn: ... als ich die Bilder aufhängte, hatte ich das Gefühl, solche Fotografie macht keiner mehr. Das heißt nicht, dass die Bilder besser oder schlechter sind. Bloß würde sie heute keine Zeitschrift abdrucken, wenn ich ein junger unbekannter Fotograf wäre.

STANDARD: Warum?

Corbijn: Ein Fotograf hat heute ein Konzept im Kopf, er weiß schon vorher, wie die Bilder am Ende aussehen sollen. Ich nicht. Ich mache spontane Charakterstudien, keine Inszenierungen. Meine Ära des Bildermachens geht seinem Ende entgegen.

STANDARD: Der Künstler Olafur Eliasson mag das Licht an einem späten Herbstnachmittag. Welches bevorzugen Sie?

Corbijn: Ich bin mit holländischem Licht aufgewachsen, eine Menge Wolken mit punktueller Helligkeit zwischendrin. Auf den Gemälden der alten Meister sehen Sie das sehr schön. Sonnenlicht ist gut für Atmosphäre, für Porträts sind bewölkte Himmel wie in Holland besser. In den frühen 90er-Jahren bin ich sogar nach Los Angeles gefahren, weil ich genau damit experimentieren wollte: mehr Licht, längere Schatten. Ich habe verstanden, warum Helmut Newton die Stadt dermaßen gefiel. Das Licht schmeichelt einfach dem Körper. Man sieht fantastisch aus. Aber mir liegen die Wechsel der vier Jahreszeiten, ich finde Regen schön.

STANDARD: Wieso das denn?

Corbijn: Wahrscheinlich ist es Nostalgie. Wenn ich bei Regen aus dem Fenster schaue, erinnere ich mich an meine Kindheit in den 50er- und 60er-Jahren. Wie ich als Kind im Haus saß, sicher, warm, draußen regnete es und roch nach Dung. Ich erinnere mich an die frühen Lieder der Beatles, das war die Musik, die zu der Zeit lief. Allerdings nicht zu Hause. Ich bekam erst mit zwölf Jahren einen Plattenspieler, und bei meinen Eltern war das Radio immer auf den Sender mit klassischer Musik eingestellt.

STANDARD: Sie hatten eine strenge Kindheit?

Corbijn: Ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet, ich war der älteste Sohn des Dorfpastors und musste ein gutes Beispiel für alle Kinder abgeben. Ich durfte am Sonntag nicht mit dem Rad fahren. Als Kind will man aber genau das. Ich durfte mich auf keinen Fall mit jemandem prügeln, der Pastorensohn darf sich nie in Konflikte verwickeln lassen. Als kleiner Junge machten mir diese Gebote, die wie düstere Prophezeiungen klangen, Angst.

STANDARD: Vivienne Westwood war als Kind von Kirchenmalerei traumatisiert. Haben Sie die Bilder der Leiden Christi geprägt?

Corbijn: Mein Vater leitete eine protestantische Kirche, da gab es nur weiß gestrichene Wände und ein schlichtes Kreuz am Altar. Ich sehe meine ikonischen Fotografien als rebellischen Akt, um dagegen zu protestieren, dass wir nie Bilder an der Wand hatten. Nur selbstgemalte Gemälde meines Großvaters, auf denen holländische Dörfer mit Kirchen zu sehen waren, ganz langweilige Motive.

Schriftsteller Allen Ginsberg (1996), der ins Narrenkastl zu starren scheint.
Foto: Anton Corbijn

STANDARD: Aufgewachsen sind Sie damals auf einer Insel in der Rheinmündung.

Corbijn: Mit fünf Dörfern darauf. In den 50er- und 60er-Jahren kam mir dieses Leben völlig isoliert vom Rest der Welt vor. Heute gibt es Tunnel und Brücken, man bekommt überhaupt nicht mehr mit, wann man auf die Insel fährt oder sie wieder verlässt. Damals gab es nur am nördlichen Ufer eine kleine Metallbrücke, eine Fahrspur auf jeder Seite, die in Richtung Rotterdam führte. Vor unserem Haus floss das Wasser. Ich hatte ein Kanu, mit dem ich als Kind unterwegs war und davon träumte, wie schön das Leben auf der anderen Seite des Wassers sein müsste.

STANDARD: Haben Sie sich mit Geschichten weggeträumt?

Corbijn: Nein, obwohl ich viel gelesen habe. Kinderbücher über den Zweiten Weltkrieg. Es ging um holländische Kinder, die sich verstecken mussten.

STANDARD: Die Deutschen waren für Sie die Bösen?

Corbijn: So schwarz und weiß waren die Bücher nicht. Allerdings wirkte der Krieg lange auf meine Eltern nach. Sie fanden es über viele Jahre hinweg unerträglich, nach Deutschland zu fahren. Wenn ein Beamter an der Grenze rief: "Ausweise!", hatte das bei ihnen automatisch eine körperliche Reaktion zur Folge. Sie erstarrten. Dabei waren sie religiös erzogen, sie glaubten an die Kraft der Vergebung.

STANDARD: Rotterdam war nur ein paar Kilometer weg. Wollten Sie dort eines Tages leben, als Sie ein Kind waren?

Corbijn: Nein, die Stadt machte mich nervös. Was an meinem Vater lag. Als ich sechs war, kaufte er einen Volkswagen Käfer. Wenn wir damit nach Rotterdam fuhren, zweimal im Jahr von der Insel runter, war das ein aufregendes Ereignis für die Familie. "Pass auf, da kommt eine Straßenbahn von rechts, da scheren Autos von links rein!" Für meinen Vater war das Stress – und der hat sich auf uns übertragen.

STANDARD: Sie arbeiten sich ziemlich an Ihrem Vater ab. Immerhin gab er Ihnen Ihre erste Kamera.

Corbijn: Nein, er kaufte sie nur, ein Modell von Mamiya, nichts Besonderes. Mein Vater hatte einen Freund, den Dorfarzt. Der riet ihm dazu, damit ich Fotos von unseren Ferien machen konnte. Dieser Apparat hat mir geholfen. Wenn man wie ich schüchtern ist, denkt man die ganze Zeit, jede Person im Raum redet über einen. Als ich auf meine ersten Konzerte ging, den Fotoapparat um den Hals, fiel die Spannung von mir ab. Ich hatte eine Aufgabe, ich fotografierte die Musiker auf der Bühne. Der Fotoapparat gab mir ein Gefühl für Sicherheit.

STANDARD: Er war Ihr Schlüssel zur Welt.

Corbijn: Ich verstehe, wie Kriegsfotografen ihre Arbeit machen können. Sie schauen durch den Sucher, vergessen, was außerhalb dieses Rahmens liegt, und vergessen, dass sie körperlich anwesend sind. Sie nehmen ein Risiko auf sich, das sie ohne Kamera nie eingehen würden. Für mich bedeutete die Kamera, dass ich begann, mich mit Menschen zu verständigen, mit denen ich mich sonst nie hätte unterhalten können.

STANDARD: So wurden Sie zum Freund von Tom Waits und Herbert Grönemeyer. Dieses Leben in der Popwelt begann damit, dass Sie 1979 die Band Joy Division fotografierten.

Corbijn: Ich traf sie auf einem Konzert, als ich gerade zehn Tage in London war. In gebrochenem Englisch bat ich darum, sie fotografieren zu dürfen. Ich kannte die Stadt kaum, der einzige Treffpunkt, der mir einfiel, war die U-Bahn-Station nahe meiner Souterrainwohnung. Jahrelang habe ich verschwiegen, dass es der Bahnhof Lancaster Gate war, weil ich nicht wollte, dass andere Fotografen das Motiv kopierten.

STANDARD: Durch dieses Foto, auf dem die Band in die Station hineinläuft und nur Sänger Ian Curtis zurückblickt, wurden Sie berühmt.

Corbijn: Es war kalt an dem Tag, die vier Jungs behielten ihre Arme in den Taschen und schüttelten mir zur Begrüßung nicht einmal die Hand. Sie fanden es komisch, die Bilder unten in der U-Bahn zu machen, aber interessant genug, um es durchzuziehen. Erst als wir nach zehn Minuten und eineinhalb Filmen mit etwa 35 Bildern fertig waren, haben sie mir die Hand geschüttelt.

STANDARD: In Ihrer Karriere haben Sie nur eine politische Kampagne fotografiert – für den niederländischen Sozialdemokraten Wim Kok 1999. Warum?

Corbijn: Ich bereue es ein bisschen. Zu der Zeit lebte ich schon so lange in London, ich hatte Heimweh nach Holland. Und ich konnte die politische Situation aus der Ferne nicht sehr gut einschätzen. Wim Kok war für mich mehr Staatsmann als Politiker.

STANDARD: Ist das ein Unterschied?

Corbijn: Staatsmänner kümmern sich um das Land, das sie regieren, Politiker um die Partei, in der sie sind. Ich hätte es trotzdem nicht tun sollen. Er begann später, für große Unternehmen zu arbeiten. Irgendwie war ich enttäuscht. Ich fühlte mich verkauft.

STANDARD: Die "New York Times" bat Sie später einmal, Jörg Haider zu fotografieren ...

Corbijn: ... und ich lehnte ab. Würden Sie sich nicht auch von Hitler fernhalten, wenn Sie gefragt werden? Ich wollte ihm nicht zu einer Ikonisierung durch meine Bilder verhelfen.

STANDARD: Gibt es jemanden, den Sie noch fotografieren wollen?

Corbijn: Ich könnte ein besseres Bild von Uncle Bob machen.

STANDARD: Von wem?

Corbijn: Bob Dylan. Ich habe ihn einmal fotografiert, das war ein zufälliges Treffen. Das würde ich gern noch einmal besser machen.

STANDARD: Fragen Sie doch Ihre Freunde von U2, damit sie Ihnen die Tür öffnen.

Corbijn: Ich will ihm nicht hinterherjagen, das ist nicht meine Art. Ich glaube daran, dass es eines Tages eine Möglichkeit geben wird. Aber ich werde nicht auf seiner Türschwelle darauf warten. (Ulf Lippitz, Rondo, 30.10.2015)