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Mithilfe von Genfallen, die sie in das Erbgut von Zellen einschleusten, haben Wissenschafter einen Katalog von Schlüsselgenen zusammengestellt. Im Bild: Hefezellen.

Foto: SciMAT / PhotoResearchers / picturedesk.com

Wien – Sie mögen nur wenige Hundertstel Millimeter groß sein, doch jede von ihnen verfügt über eine bestens ausgestattete Bibliothek. Zellen enthalten in ihrem Kern DNA, deren langkettige Moleküle bekanntlich die Informationsträger für die Regulierung und den Ablauf sämtlicher Stoffwechselvorgänge sind. Kochbücher, quasi. Es werden gleichwohl nicht alle Rezepte genutzt. Das menschliche Erbgut umfasst an die 22.000 Gene, erklärt der Biologe Giulio Superti-Furga.

Davon sind allerdings nur etwa 10.000 tatsächlich im Gebrauch. Welche, das hängt vom Zelltyp ab. Ein Neuron zum Beispiel benötigt für seine Tätigkeit eine ganz andere biochemische Ausstattung als eine Muskelzelle. Diese Spezialisierung war schließlich die Voraussetzung für die Entstehung komplexer Organismen, egal ob Baum, Schnecke oder Säugetier.

Dennoch gibt es bestimmte physiologische Prozesse, die eigentlich allen Zellen eigen sind. Einige davon sind der Forschung schon länger bekannt, inklusive der sie steuernden DNA-Sequenzen. Ein umfassender Katalog solcher Schlüsselgene fehlte aber. Bis jetzt. Nun hat ein internationales Forscherteam erstmalig insgesamt 1734 Gene identifiziert, deren Funktion für das Überleben unterschiedlicher menschlicher Zelltypen entscheidend ist.

Die Experten bezeichnen sie als Essenzielom – in Anlehnung an den Fachbegriff Genom und ähnliche Bezeichnungen. Giulio Superti-Furga, wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, ist einer der beteiligten Fachleute. Die Studienergebnisse seien bahnbrechende Grundlagenforschung, schwärmt er. "Dies ist die Essenz des Lebens."

Eine vollständige Liste der besagten Gene und weitere Details wurden vor kurzem online vom Fachmagazin Science publiziert. Zeitgleich veröffentlichte eine US-Arbeitsgruppe die Resultate einer ähnlichen Untersuchung. Sie hat ebenfalls nach Genen mit essenzieller Funktion für das Überleben von menschlichen Zellen gesucht und fand insgesamt 1878 solcher Sequenzen.

Zur Identifikation der entscheidenden Codes setzten Superti-Furga und seine Kollegen modifizierte Retroviren ein. Letztere tragen sogenannte "gene traps", Gen-fallen, die sie in das Erbgut der Zellen einschleusen.

Die "Fallen" bestehen im Wesentlichen aus einer kurzen DNA-Sequenz mit zerstörerischer Wirkung. Sie fügt der Kette zwar keinen direkten Schaden zu, wird aber bei der Transkription mit abgelesen und führt später zum Abbau des entstandenen RNA-Moleküls oder zum Abbruch von dessen Translation. Im Endergebnis: Die Synthese des Genprodukts kommt nicht zustande, der Stoff fehlt.

Einbau von Fallen

Der Einbau von Genfallen erfolgt weitestgehend wahllos – nach dem Schrotflintenprinzip. Man kann sie jedoch im Nachhinein durch Sequenzierungstechniken wieder auffinden und ihre exakte Position ermitteln. Die Forscher lassen ihre Retroviren übrigens auf haploide Zuchtzellen mit einem halbierten Chromosomensatz los. So wird verhindert, dass die Zellen auf Reservekopien von gestörten Genen zurückgreifen.

Der Rest der Untersuchung folgt einer simplen Logik: Zellen mit "gene traps" in lebenswichtigen Sequenzen können sich in der Kultur nicht weitervermehren. Am Anfang lassen sich diese eingeschleusten Fallen noch nachweisen, aber spätestens nach zwei Wochen nicht mehr. Ihre Träger sind schlichtweg ausgestorben. Die betroffenen Gene müssten somit zum Essenzielom gehören.

Zu den als entscheidend identifizierten DNA-Abschnitten gehören unter anderem die Codes für fast alle Komponenten der wichtigsten Protease-Maschinerie. Dieses Enzym zerlegt andere Proteinmoleküle, oft ebenfalls Enzyme. Merkwürdig? Keinesfalls, erklärt Superti-Furga. Enzyme sind die Katalysatoren unterschiedlichster Stoffwechselvorgänge und werden nach Bedarf produziert. "Wenn da nicht wieder abgebaut wird, kann ein Prozess nicht mehr gestoppt werden. Dann gibt es Chaos in der Zelle."

Viele der offenbar zum Essenzielom gehörenden Gene des Menschen kommen auch in Hefezellen vor. Die Wissenschafter haben deshalb das evolutionäre Alter der gefundenen DNA-Sequenzen berechnet. Demnach sind 77 Prozent bereits vor der Entwicklung der ersten mehrzelligen Tiere entstanden – vor mehr als 635 Millionen Jahren also. Das Wort Erbgut bekommt in diesem Kontext fürwahr eine ganz besondere Bedeutung.

Perspektiven für Medizin

Das Team hat auch das Zusammenspiel der lebenswichtigen Proteine mit anderen Eiweißgebilden untersucht. Interessanterweise treten die Produkte relativ junger Gene hauptsächlich mit jenen von alten Sequenzen in Wechselwirkung. Anscheinend sind die Innovationen vor allem ergänzende Komponenten bereits länger existierender molekularer Maschinerien. Neue Apps sozusagen.

Die Studie liefert Hinweise auf zusätzliche Komplexität. Viele der nicht direkt essenziellen Gene dürften trotzdem eine wesentliche Rolle spielen. Ihre Funktion scheint allerdings durch andere Codes übernommen werden zu können.

Erst wenn beide gleichzeitig ausfallen, verliert die Zelle ihre Lebensfähigkeit. Die Wissenschafter bezeichnen dieses Prinzip als "synthetische Letalität". Den Untersuchungsergebnissen nach haben Gene durchschnittlich etwa 20 solcher Interaktionspartner, manche sogar mehr als doppelt so viele.

Die Kartierung des Essenzieloms bietet der medizinischen Forschung neue Perspektiven, meint Giulio Superti-Furga. Wenn man die Gene identifiziert hat, könne man nicht nur funktionelle Netzwerke aufzeigen, sondern auch erkennen, welche Sequenzen für Entstehung und Wachstum von Krebszellen entscheidend sind, "wo sie besonders verletzlich sind". Und diese Achillesfersen gelte es dann anzugreifen. (Kurt de Swaaf, 8.11.2015)