Vom Fenster meiner Küche sehe ich in die Innenhöfe von drei Häusern.

Foto: privat

Vom Fenster meiner Küche sehe ich in die Innenhöfe von drei Häusern. Hier gibt es keine Autos. Nur Fußgänger. Kleine Feuermauern trennen die Höfe, sodass die Menschen darin einander nicht sehen können. Aber ich kann sie alle sehen.

Hofverkehr

Seit wir hier wohnen, rauche ich am Küchenfenster. Was ich grad hab. Und trinke ein Bier dazu. Dann fühle ich mich oft wie die Greisinnen, halb aus einem Wohnungsfenster hängend, die man manchmal von der Gasse aus sieht und ein wenig traurig daran vorbeigeht. Weil man weiß, dass dieses Aus-dem-Fenster-schauen ihr einziger Kontakt zur Außenwelt ist. Allerdings blickt mein Küchenfenster auf den Hof. Das ein Miniuniversum ist. Seine Bewohner sind mir manchmal vertraut, aber manch andere bleiben ein Rätsel.

Wie das Ehepaar, das im ersten Stock im Haus gegenüber wohnt. Sie sind eindeutig Asiaten, wahrscheinlich Chinesen. Beide sind schon sehr alt, und ich habe den Eindruck, dass sie schon ewig ein Paar sind. Ich sehe, wie er die Einkaufstaschen trägt, ihr den Schlüssel reicht, sie einander über die Türschwelle helfen, die Türe zusperren. Dann sind sie in der Wohnung, und das immergleiche Ritual des einander aus dem Gewand und aus den Schuhen Helfens beginnt. Alles an ihren Bewegungen ist wie eine sanfte und eingespielte Tanzchoreografie, wie liebevolles Tai Chi. Doch nie sehe ich einen der beiden lachen. Nicht einmal lächeln.

Ich weiß bis jetzt noch nicht, welches Schicksal diese Menschen einst nach Wien verschlagen hat, aber es muss etwas sehr Trauriges sein, das vor sehr langer Zeit geschehen ist. Und es muss etwas sein, das nur ihre Liebe zueinander übriggelassen hat. Keine Familie, keine Heimat und keine Hoffnung, wenigstens dort in unbesuchten Gräbern zu ruhen, wo sie geboren worden sind. Ich glaube, diese beiden gestrandeten Menschen warten nur noch auf ihren Tod in der Fremde.

Perfect Loverboy

Genau über den traurigen Chinesen öffnet seit einer Weile eine wunderschöne junge Frau das Fenster ihres Badezimmers, setzt sich rittlings auf das Fensterbrett und genießt die Sonne, ein Glas Wein und einen Joint. Dann sieht sie, dass ich auf dieselbe Weise genieße, mit Bier statt Wein. Sie prostet mir fröhlich zu und zieht tief an ihrem Joint. Meine Freundin grinst, weil sie sehen kann, wie sich der schmutzige, alte Mann in mir regt. Sie sagt: "Na, alter Mann? Jemand wird im Hof auf deinem Sabber ausrutschen!"

Dann tritt aus der Dunkelheit im Hintergrund ein Afrikaner und stellt sich zur jungen Frau. Er ist nackt. Seine Haut spannt sich über Muskeln, die Generationen von Kriegern und Jägern ihm als Erbe hinterlassen haben. Er ist ein junger Gott aus dem Herzen der Finsternis. Meine Freundin sagt: "Gib mir den Joint! Ich will auch sabbern!" Dann winkt sie schamlos-idiotisch grinsend dem jungen Mann zu. Ich habe den Eindruck, die beiden am Fenster gegenüber wissen genau, was für ein Film gerade in unseren Köpfen abläuft. Im Internet würde man ihn unter den Suchbegriffen "interracial+swinger+gangbang" finden.

Eine Chance, den Film in Realität zu verwandeln, ergibt sich nicht. Die beiden Liebenden von zwei Kontinenten ziehen nach wenigen Wochen wieder aus, ohne dass wir einander näher als bis zur Fensterdistanz gekommen wären.

Der Hofer woa´s

Eines heißen Nachmittags, kurz vor Sommerbeginn, sehe ich im Stiegenhaus unseres Nachbargebäudes Männer in weißen Schutzanzügen. Sie haben Schutzmasken vor dem Gesicht und tragen Möbel, Matratzen und große schwarze Müllsäcke zum Haustor. Ich frage mich kurz, ob hier eine Outbreak-Situation vorliegt und wir alle demnächst unter Quarantäne gestellt werden, weil der Zombismus los ist. Aber dann erinnere ich mich an den Mordfall, der wenige Monate zuvor in diesem Haus geschehen ist. Es ist tatsächlich eine Zombiestory.

Hier leben zwei Alk- und Drogenzombies in einer zugemüllten Wohnung. Offenbar geht das einige Jahre gut. Doch dann erschlägt ein Zombie den anderen, bestattet ihn anschließend in einer Ecke der Wohnung unter Zeitungen, Pizzaschachteln und Einkaufssackerln. Und lebt noch einige Wochen mit dem Toten im Eck weiter sein gewohntes Unleben.

Das es aus der Wohnung der zwei Zombies dauernd miachtlt wie aus 'm Koloniakübl, sind die Bewohner des Hauses bereits seit Langem gewohnt und nehmen es hin. Doch nun miachtlts nimmer – es siasslt wia von aaner Leich! Als es unerträglich wird, holt man die Polizei. Man findet den verwesenden Toten, verhaftet den Täter und die Zeitungen bringen einen kurzen Artikel über den neuesten Mord in Meidling.

Und heute tragen die Männer in Weiß aus dieser Wohnung die letzten Reste zweier zerstörter Leben.

X-Factor

In unserem Hof, auf der kleinen Treppe zum Stiegenhaus, sitzt oft ein dünner Mann und raucht eine oder zwei Zigaretten. Manchmal treffe ich ihn dort an und wir plaudern. Er ist Serbe, seine große Leidenschaft ist das Angeln, und er lebt mit seiner Schwester in der Zimmer-Küche-Wohnung im Erdgeschoß. Seine Schwester kocht für ihn, manchmal hat sie aber einen Job. Manchmal hat der dünne Mann einen Job. Es wirkt, als ob die beiden schon lange auf diese Weise durchs Leben navigierten.

Eines Tages fällt mir auf, dass ich den dünnen Mann und seine Schwester schon lange nicht mehr auf der Treppe zum Hof antreffe. Einige Wochen später ist die Wohnungstüre offen, Arbeiter gehen ein und aus, tragen Kartons und Müllsäcke hinaus. Wieder blitzt in meinem Hirn eine Theorie auf: "Noch ein Mord in Meidling! Eifersuchtsdrama unter Geschwistern!"

Doch es ist geheimnisvoller. Der Partieführer sagt, in der Wohnung sei alles so vorgefunden worden wie auf einem Geisterschiff. Als die Arbeiter eintreten, sind Teller mit Essensresten auf dem Tisch, Schuhe und Gewand der Geschwister sind alle da. Als ob sie beide eines Morgens, noch bevor sie das angerichtete Frühstück essen, einfach aus der Wohnung gehen und nie wieder zurückkommen.

Bis heute weiß ich nicht, was hinter diesem Verschwinden steckt. Außerirdische kommen infrage. Oder inzestuös lebende Mietnomaden. Wer weiß? (Bogumil Balkansky, 8.11.2015)