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André Glucksmann wahrte auch im hohen Alter seine geistige Elastizität. Sein 2004 auf Deutsch erschienener Essay "Hass – Die Rückkehr einer elementaren Gewalt" nahm vieles vorweg.

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Glucksmann starb im Altern von 78 Jahren.

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Denken erfordert Raum. André Glucksmann empfing in einem großen, fast leeren Wohnzimmer eines belebten Pariser Gewerbeviertels. In der Mitte gab es zwei Sessel, am Rand ein Klavier; das Licht war so gedämpft wie die Stimme des Philosophen, und durch seine druckreifen Sätze wehte der Atem der Geschichte, wie er es nur bei einem alten, weisen Menschen zu tun vermag.

Das hinderte Glucksmann nicht, zugleich hanebüchene Dinge zu sagen, die heute, fünf Jahre später, kaum mehr nachvollziehbar sind. Nicolas Sarkozy liege ganz auf der Linie von Mai 68, behauptete der berühmte Denker; der (damalige) Staatspräsident sei das Gegenteil von konservativ, nämlich bilderstürmerisch, einer, der mit dem "alten", bürgerlichen Frankreich aufräumen würde.

Kein Wort davon, dass Sarkozy selbst den "Schlendrian der Linken" geißelte, dass er Autokraten wie Gaddafi oder Putin den roten Teppich ausrollte. "Die Diplomatie des Westens hat immer Diktatoren empfangen", beschied der Philosoph, der sonst "Totalitarismusgegner" wie Solschenizyn auf eine Ebene mit Voltaire hob.

In Le Monde meinte Jean-Marie Laclavetine, Glucksmann täusche sich mit Sarkozy, so wie er sich von Beginn an getäuscht habe, als er in die maoistische, gerade verbotene "Gauche prolétarienne" eingetreten sei .

Echter "Intello"

Oder, so ließe sich anfügen, wie er später im neokonservativen "Cercle de l'Oratoir" mitmachte. Als echter französischer "Intello", der das Ohr stets an der Aktualität hatte, trat Glucksmann zwar auch – neben Jean-Paul Sartre und Raymond Aron – für die vietnamesischen Boatpeople ein, später für die Völker Tschetscheniens, in Darfur oder Tibet. Im Unterschied zu seinem linken Gegenpart Bernard-Henri Lévy tat Glucksmann dies stets mit Stil, ja mit einer charmanten Scheu. Auf diese Weise begrüßte er aber auch die Atomversuche eines Jacques Chirac, den Golfkrieg oder 2011 den Natoeinsatz gegen Libyen.

Glucksmann war nicht nur der lebende Beweis, dass ein Exmarxist zu einem US-Atlantisten mutieren kann, er theoretisierte diesen Spagat auch gern. "Wir lebten und dachten im Begriff der Revolution", begründete er seine Anfänge im Mai '68. "Es gab zahlreiche historische Anspielungen, weniger an 1789 als an den Aufstand der Kommune 1871."

Anders als Lévy verkam Glucksmann nie zum Mediengockel, und anders als Alain Finkielkraut bewahrte er im Alter seine geistige Elastizität. Sie rechtfertigte auch das Etikett "Vordenker". Sein auf Deutsch erschienener Essay Hass – Die Rückkehr einer elementaren Gewalt (2004) nahm vieles vorweg.

Auch den übrigen Pariser Philosophen hatte Glucksmann einiges voraus; im Unterschied zum unreflektierten Kriegstreiber Lévy kannte Glucksmann sogar Clausewitz bis ins Detail. Heideggers Sein und Zeit hatte der Enkel einer deutschsprachigen Großmutter im Original gelesen. Mutter und Vater emigrierten von Osteuropa nach Frankreich – er starb in der Résistance, sie versteckte den 1937 bei Paris geborenen André während der Nazizeit. Mit der gleichen Verve, mit der er das Nachkriegsfrankreich eine "faschistische Diktatur" nannte, geißelte er später den deutschen Idealismus als ursächlich für die Nazikatastrophe.

Immer schön polemisch, widerspenstig und engagiert, doppelbödig bis in den Widerspruch; oft haarscharf danebenliegend – aber das Ganze mit Stil: So war Glucksmann, der letzte Mohikaner des französischen Esprits. (Stefan Brändle aus Paris, 10.11.2015)