Der 17. November wurde zum "Tag, an dem Österreich seine Bildungsre-form bekommt", hochstilisiert. Die Schulreform ist dadurch mit so hohem Erwartungsdruck belegt, dass man sich stärker vor Aktivismus um der Reform willen fürchten muss als vor "zu kleinen" Ergebnissen. Mantraartig wird von allen Seiten die Phrase vom "Stillstand" wiederholt, dem endlich die "große Reform" folgen sollte, und es wird gar das Bild der "Revolution" bemüht. Was sind die Themen und Aspekte, die den öffentlichen Diskurs bestimmen?

· Erstens die Zuständigkeiten von Bund und Ländern mit Positionen zwischen weitgehender "Verländerung" im Sinne der Föderalisten und Abschaffung der Länderkompetenzen (Konzept Schulgovernance neu).

  • Zweitens die Schulautonomie zwischen verbriefter umfassender pädagogischer, organisatorischer, personeller und finanzieller Autonomie auf Schulebene einerseits und der Aufrechterhaltung eingeschränkter Zuständigkeiten andererseits, fälschlicherweise wird die Schulautonomie von den Zuständigkeiten getrennt.
  • Drittens bei der zu frühen Aufteilung der Zehnjährigen auf AHS und NMS der Abwehrkampf fundamentalistischer Verteidiger der AHS-Unterstufe gegen die breite Forderung nach einer gemeinsamen Schule.
  • Viertens die einseitige und isolierte Konzentration auf das Deutschlernen bis in die Pausen gegenüber umfassenderen Konzepten der Integration unter Einschluss der Muttersprachen.
  • Fünftens die immerwährende Forderung nach Ausweitung der Ressourcen gegenüber den Forderungen nach Effizienz und Einschränkung der öffentlichen Ausgaben.
  • Sechstens in der Frage der Betreuungsangebote für die Kinder berufstätiger Eltern der verbis-sene unterschwellige hinhaltende Widerstand gegen eine zu weit gehende Stärkung guter öffentlicher Betreuungs- und Lernangebote vor allem im frühen Alter der Kinder.

Diese Polaritäten sind konstitutiv für die österreichische Bildungspolitik, und die Gruppierungen neigen zu einem der Endpunkte – seit Jahrzehnten stehen sich mehr oder weniger aggressiv zwei Lager gegenüber, deren Aufweichungen nicht ausreichend sind. Der beklagte "Stillstand" ergibt sich aus der Logik dieser Polaritäten: Der perfekte Kompromiss zwischen gegenteiligen Forderungen ist, nichts zu tun; kreuzweise Abtausche zwischen den Themen wären ebenfalls inkonsistente Lösungen. Beides ist nicht befriedigend, die Konfliktpositionen würden aufrechtbleiben, niemand wäre wirklich zufrieden, die erhoffte Leistungsverbesserung würde sich aufgrund der mangelnden Aufbruchsstimmung nicht einstellen.

Angesichts der Menge an Reformen kann in der Bildungspolitik von Stillstand de facto nicht gesprochen werden, manche Beobachter sprechen sogar von "Reformwahn" – die Polarisierung macht also selbst vor der Beobachtungsebene nicht halt.

Beispiele für diese Reformen sind, beginnend mit der Autonomiereform 1993, der Umbau der Mittelstufe, die Bildungsstandards, die Maturareform, die neue Lehrerbildung, die Dienstrechtsreform, die Bifie-Gründung und Reform sowie viele kleinere Ansätze wie der Aufbau der Didaktikzentren, die Ansätze der Qualitätsentwicklung, verschiedene Initiativen zur Leseförderung, viele Projekte zur Schulentwicklung und nicht zuletzt verschiedene Lehrplanreformen im Sinne der Kompetenzorientierung – es wurden auch beträchtliche zusätzliche Mittel in das Schulwesen gepumpt, die vor allem in zusätzliche Lehrpersonen gegangen sind.

Immer falsch

Die Frage ist daher nicht die Größe der Reform, sondern wie die Politik auf den Boden gebracht werden kann und warum eine derart universelle Wahrnehmung des Stillstandes entsteht. Es gibt mehrere Antworten: Im polarisierten Klima müssen die Reformen immer für jemanden die falschen sein. Dann blieben erkennbare Wirkungen weitgehend aus, bei den Leistungsmessungen und bei der Akzeptanz und dem Klima in der Praxis. Dies betrifft das Beziehungsmanagement und die hierarchische Grundstruktur: Die Politik ist für alles zuständig, aber bei Problemen macht sie die Basis an den Schulen verantwortlich. Schließlich gibt es bei den Reformen selbst substanzielle Probleme, indem sie oft Heikles ansprechen, aber ihre Zwecke zu wenig konsequent verfolgen – an anderer Stelle wurde von einer Art "law of endemically insufficient improvement" gesprochen.

Die Reformen kommen aufgrund der Zuständigkeitsstruktur nicht auf den Boden. Vordergründig besteht eine dicht regulierte Bürokratie mit dem Ministerium an der Spitze und den Schulen/Lehrpersonen an der Basis, der Durchgriff ist jedoch auf der Landesebene gebrochen. Die Folge: Die Leute leiden unter der Bürokratie, aber diese ist nicht wirksam; und in der Konkurrenz zwischen Bund und Ländern können aufgrund der Polaritäten beide zwar destruieren, aber keiner kann wirklich etwas durchsetzen (siehe Mittelstufe Vorarlberg). Eine wesentliche Verwerfung besteht darin, dass die Mittel für die Lehrpersonen vom Bund aufgebracht werden, die Länder aber für die Pflichtschulen die wesentlichen Entscheidungen über die Verausgabung dieser Mittel treffen, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen (Landeslehrer) – hier liegt auch die wesentliche Quelle für die dauernden Auseinandersetzungen um die Bildungsbudgets. In Verbindung mit der Trennung von Pflichtschule und AHS ergibt sich daraus eine gravierende Intransparenz der Ressourcenverausgabung – eine weitere Verländerung würde diese Intransparenz auf die Spitze treiben, es ist also nicht irrelevant, wer zuständig ist und wie diese Zuständigkeit gestaltet ist.

Die Herstellung von Transparenz über die Verausgabung der öffentlichen Mittel durch die Zusammenführung der neun Landesverrechnungs- und Informationssysteme mit dem System des Bundes würde eine eigentlich selbstverständliche Grundvoraussetzung erfüllen und die Grundlage für viele Konflikte beseitigen – diese einfache Lösung ist aber kein Teil der diskutierten "großen Reformen". (Lorenz Lassnigg, 12.11.2015)