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Gewerkschafter ziehen am Donnerstag durch die Straßen Athens. Der öffentliche Verkehr in Griechenland kam großteils zum Erliegen.

Reuters: Michalis Karagiannis

Athen – Griechenland steckt in einer doppelten Krise fest. Das südeuropäische Land ist seit Monaten Mittelpunkt des anhaltenden Flüchtlingsdramas in Europa. Mehr als eine halbe Million Flüchtlinge strandeten in diesem Jahr bereits in Griechenland. Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht von Tragödien berichtet werden muss. Allein am Mittwoch kamen vor ostägäischen Inseln 18 Menschen bei ihrem Versuch ums Leben, von der kleinasiatischen Küste aus griechisches Territorium zu erreichen. Zugleich stöhnen die Menschen in Hellas unter den Folgen der seit fünf Jahren anhaltenden Spar- und Kürzungspolitik.

Am Donnerstag haben sich Wirtschafts- und Flüchtlingskrise wieder zu einem dieser tragikomischen Momente vermischt: Die griechischen Gewerkschaften hielten am Donnerstag einen 24-stündigen Generalstreik. Ihr Unmut richtete sich diesmal nicht gegen ungeliebte konservative und neoliberale Politiker, sondern gegen die "erste linke Regierung", wie sie sich selbst gerne nennt, unter Premier Alexis Tsipras und seine Sparpolitik. Nur war Tsipras gar nicht im Land, weil er am europäisch-afrikanischen Migrationsgipfel auf Malta teilnahm.

Abwesend beim Streik

An den Protesten am Donnerstag nahmen etwa 25.000 Menschen teil. In Athen kam es zu Scharmützeln zwischen Polizei und Autonomen. Der Streit war nur ein Fanal für die Proteste, die noch kommen sollen. Für nächsten Mittwoch haben bereits die Landwirte in der Hauptstadt eine Großkundgebung angekündigt und wollen mit Traktoren und Viehherden durch die Straßen Athens ziehen. Die Produktionskosten in der Agrarwirtschaft werden durch ein jüngst verabschiedetes Gesetz deutlich verteuert. Das wollen die Bauern nicht einfach so hinnehmen.

Im Umfeld der Protestkundgebungen kommen auch fast surreale Facetten an die Oberfläche, die aus dem Widerspruch zwischen langjähriger Syriza-Rhetorik und der nun praktizierten Politik resultieren. Noch vor wenigen Monaten wollte Tsipras die Spar- und Kreditvereinbarungen mit den internationalen Geldgebern – EU, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds – mit "einem Gesetz" aus der Welt schaffen. Er donnerte vom Rednerpult, dass das Parlament niemals ein neues Sparprogramm absegnen werde.

180-Grad-Wende

Im Juli dieses Jahres machte der Jungpolitiker die Kehrtwende und setzte seine Unterschrift unter ein weiteres Austeritätspaket, um die Finanzierbarkeit des Landes zu sichern. Als Folge spaltete sich der linke Flügel der Syriza ab.

Von der Rolle des Opponierenden wollen sich aber offensichtlich einige Syriza-Genossen partout nicht verabschieden. Das Ressort für Arbeitspolitik von Syriza rief wenige Tage vor dem Generalstreik die "Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslosen und Jugendlichen" dazu auf, sich aktiv am Ausstand zu beteiligen. "Wir sagen Nein zur Sparpolitik in Griechenland und in Europa. Unser Volk wird als Sieger aus seinen Kämpfen hervorgehen", ist auf der Webseite Syrizas nachzulesen. Ein gefundenes Fressen für bissige Kommentare in den Social Media. "Alle auf die Straße – gemeinsam mit Syriza gegen Syriza!", hieß es da. Ein User scherzte, dass Tsipras symbolisch seinen Amtssitz besetzen werde, um gegen seine eigene Politik zu protestieren.

Nach dem Bruch bei Syriza sowie der Unterzeichnung des dritten Sparpakets scheint die Links-rechts-Regierung, in der auch noch die rechtspopulistischen "Unabhängigen Griechen" als Juniorpartner mitmischen, im "Schwebenden Schritt des Storches" zu verharren. Das ist ein Filmtitel des bekannten griechischen Regisseurs Theo Angelopoulos. Wohin nämlich Tsipras genau seinen Fuß setzen will, bleibt vielen noch ein Rätsel.

Eine Reihe von Einsparungen hat die Regierung bereits auf den Weg gebracht – etwa Mehrwertsteueranhebungen. Große Kürzungsvorhaben, etwa bei den Pensionisten, stehen noch aus.

Der Wandel der radikalen Linken hin zu einer Politik, die sich von den verhassten Vorgängerregierungen bisher nicht wesentlich unterscheidet, bringt Syriza-Anhänger in die Bredouille. Sie hoffen, dass ihr Hoffnungsträger zu seiner alten Linie zurückehrt, soweit ihm die übrigen Euroländer wieder etwas mehr Luft lassen. (Robert Stadler, 12.11.2015)