Mohamed ElBaradei: Den IS zu besiegen wird nichts nützen, wenn man sich nicht mit den Ursachen für sein Hochkommen beschäftigt.

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STANDARD: Sie haben vor kurzem gesagt, der IS sei ein "Kollateralschaden" des Irak-Kriegs?

Mohamed ElBaradei: Was wir heute im Nahen Osten sehen, ist für mich mit "The chickens are coming home to roost" gut beschrieben.

STANDARD: Am einfachsten ist das mit "Zahltag ist" zu übersetzen.

ElBaradei: Auch US-Präsident Barack Obama nannte den IS einen "Auswuchs" der US-Invasion im Irak von 2003. Aber es ist mehr, eine Folge des jahrzehntelangen Missmanagements des Nahen Ostens. Der Westen ist mit jedem Diktator ins Bett gegangen, die Menschen waren völlig egal. Wer hat denn den Islam in die Politik gebracht: In Afghanistan bediente man sich der Mujahedin, danach machten sie eben allein weiter. In Syrien hat man versucht, so etwas wie "moderate Rebellen" zu entwickeln, sie sind zu den Extremisten übergelaufen. Eine Politik der Scheuklappen.

STANDARD: Der IS ist aber nicht nur in Kriegsländern erfolgreich. Was sehen die Menschen in ihm?

ElBaradei: Das Leben im Nahen Osten gleicht einer Art Sklaventum, es gibt keine Freiheit, sich auszudrücken, sich zu entwickeln. Dazu kommt so viel Armut, Ungleichheit. Die jungen Leute haben jede Hoffnung auf die Zukunft verloren.

STANDARD: Aber gerade aus den arabischen Golfstaaten, wo man nicht arm ist, kommt viel Unterstützung für den IS.

ElBaradei: Ich glaube, dass der alle verbindende Grund das tiefe Gefühl der Demütigung ist. Beginnend mit der Palästinenserfrage, die von den Regimen ausgenützt wurde. Von außen kümmert sich keiner, von den eigenen Regierungen wird man wie Dreck behandelt: Da findet man vielleicht Sinn in einer wahnsinnigen Idee einer kollektiven religiösen Erweckung. Und im Fernsehen sehen sie, wie in Gaza, Irak, Libyen, Jemen Muslime getötet werden – und jemand sagt ihnen, das ist eine große Verschwörung, wir müssen kämpfen.

STANDARD: Die erste Welle der Rekrutierungen in Europa erfolgte mit dem Argument, in Syrien würden "Sunniten abgeschlachtet".

ElBaradei: Sunna, Schia, das ist doch Schwindel, nur eine Maske, hinter der sich die regionale politische Rivalität versteckt.

STANDARD: Aber für die Menschen sehr wirkungsmächtig. Warum sind die arabischen Staaten so schwach, so zerfallsgefährdet?

ElBaradei: Die Staaten haben ihren Bürgern nichts gegeben, wie sollten diese sich mit ihren Staaten identifizieren? Die Menschen suchen sich Subidentitäten – von der Familie, der Ethnie bis zu Religion und ihren Unterteilungen in Sunna und Schia. Der Staat wird nicht als Beschützer, sondern als Gegner wahrgenommen.

STANDARD: Wie sehen Sie den Zulauf zum IS im Westen?

ElBaradei: Auch hier ist es uns nicht gelungen, den Jungen Vertrauen in das existierende System zu vermitteln. Da ist viel Protest dabei. Sehen Sie doch auf die Ungleichheit: Nächstes Jahr wird ein Prozent der Reichsten so viel besitzen wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Das sind 80 Milliardäre, die gehen in einen Bus hinein. Wie kann man glauben, dass so etwas noch lange aufrechterhalten werden kann? Und dann fragen wir uns: Warum kommen alle diese Flüchtlinge zu uns? Bisher war das alles weit weg, aber jetzt kommt es zu uns.

STANDARD: Was kann man aber nun in Syrien tun? Wird wirklich nur mehr eine militärische Intervention am Boden gegen den IS helfen?

ElBaradei: Was immer man tut, es muss internationale Legitimation haben, wie durch die Uno.

STANDARD: Eine Uno-Einigung wird es nicht so leicht geben, weil es ja nicht nur um den IS, sondern auch um das Assad-Regime geht.

ElBaradei: Ja, das kommt davon, weil man zugelassen hat, wie sich die Beziehungen zu Russland nach Ende des Kalten Kriegs kontinuierlich verschlechtert haben. Ich sage nicht, dass das alles nur die Schuld des Westens ist, aber dem Westen ist es nie gelungen, Russland adäquat zu behandeln, eine Arbeitsbeziehung aufzubauen. Auch hier ist jetzt Zahltag. Wir zahlen dafür in der Ukraine, in Syrien – aber auch etwa bei der Abrüstung, wo nichts mehr geht. Für Syrien müssen wir alle an einen Tisch bekommen.

STANDARD: Mit den "Syria Talks" gibt es da ja jetzt immerhin einen ersten Ansatz. Sehen Sie eine Chance?

ElBaradei: Zumindest entwickeln die USA eine Politik. Auch der Iran ist dabei – ein Schlüssel zur Stabilität wie Saudi-Arabien. Für die Entwicklung eines neuen regionalen Sicherheitssystems müssten alle wichtigen Länder zusammenarbeiten, die Türkei, Ägypten, auch Israel.

STANDARD: Die USA waren in den letzten zwei Jahren völlig vom Atomdeal mit dem Iran absorbiert. Wird er zu einem strategischen Wandel in der Region führen?

ElBaradei: Diesen Deal hätte man schon vor Jahren haben können, und einen besseren. Auch hier gab es ein ziemliches Missmanagement. Den strategischen Wandel in der Region brauchen wir, aber auch eine Auseinandersetzung mit ganz prinzipiellen Fragen. Wir brauchen ganz klar auch eine religiöse Reformation. Und die Region muss ihr eigenes Geschick, ihre eigenen Probleme in die Hand nehmen.

STANDARD: Genau so ein Emanzipationsversuch war der "Arabische Frühling" 2011. Was ging schief?

ElBaradei: Man wusste wohl nur, was man nicht will, aber es gab keinen Plan für den Tag danach. Das ist nicht die Schuld der Menschen: Es gab keine Zivilgesellschaft, keine Parteien, keine demokratische Kultur. Die Idee der Synergie gibt es nicht: Wenn du in der arabischen Welt vorwärtskommen willst, musst du noch immer deinen Nachbarn erstechen. Die einzigen organisierten Gruppen waren die Islamisten und die Armee: Und diese zwei Elefanten kämpfen nun gegeneinander. Das ist es, was wir heute haben – und die Menschen sind deprimiert, hoffnungslos, und das kann zum Beginn von Gewalt werden. Aber wir müssen geduldig sein, vielleicht müssen wir – wie es ja auch in Europa der Fall war – durch dieses Blutbad gehen, um zu begreifen, dass wir zusammenarbeiten müssen und dass wir alles wie Sunniten, Schiiten, Alawiten, Jesiden vergessen müssen.

STANDARD: In Ägypten waren Sie bis 2013 mittendrin, zuletzt als Vizepräsident nach dem Sturz Mohammed Morsis.

ElBaradei: Als ich am 3. Juli zu diesem Treffen ging (bei dem dann die Absetzung Morsis bekanntgegeben wurde, Anm.), standen noch vorgezogene Präsidentschaftswahlen auf dem Plan. Aber ich kam hin, und Morsi war von der Armee bereits festgenommen worden, und Millionen Menschen waren auf den Straßen. Danach ging es mir darum, das Land zusammenzuhalten: Morsi sollte gehen – er hatte ja völlig versagt -, aber die Muslimbruderschaft sollte im politischen Prozess gehalten werden. Das wurde auch mit EU, USA, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten vereinbart: der Versuch, die Protestversammlungen friedlich aufzulösen, und ein neuer politischer Dialog. Aber die Armee hatte einen anderen Plan: Jetzt müssen wir sie loswerden. Aber wie soll das gehen?

STANDARD: War der politische Prozess falsch aufgesetzt?

ElBaradei: In Ägypten wollte man so früh wie möglich wählen. Aber es braucht wohl am Anfang eine Regierung der Nationalen Einheit und eine lange Transition anstelle von Wahlen ohne funktionierende Institutionen. Und jetzt haben wir gerade Parlamentswahlen, die zu einer Legislative führen werden, die ein verlängerter Arm der Exekutive sind.

STANDARD: Aber genau so, wie Sie vorschlagen, wurde es im Jemen gemacht – ein sehr langer Dialogprozess vor den Wahlen -, aber auch das hat nicht funktioniert.

ElBaradei: Im Jemen ist viel schiefgelaufen. Aber in Tunesien hat man jetzt so eine Regierung, und dort gibt es Hoffnung. Wenn man in einem polarisierten Land eine Lösung finden will, braucht es eine Vision und Zusammenarbeit.

STANDARD: Manchmal wird das, was jetzt im Nahen Osten los ist, mit dem 30-jährigen Krieg verglichen, da gab es auch diese Vermischung von Religion und Politik. Am Ende stand eine neue politische Ordnung.

ElBaradei: Der Unterschied ist jedoch, dass es keine lokalisierten Konflikte dieses Ausmaßes mehr gibt, alles ist mit jedem verbunden. Dieser Krieg kommt überall hin. Er ist eine globale Angelegenheit, deshalb müssen wir alle zusammenbringen. Es ist gut, den IS zu bekämpfen – aber wenn wir nicht überlegen, woher er kommt, dann werden wir einen IS Nummer zwei und drei und so weiter bekommen. Vielleicht brauchen wir ein völlig neues System, vielleicht muss der Staat völlig neu überdacht werden – für die großen Konzerne gibt es längst mehr keine Grenzen, und wir arbeiten mit den internationalen Institutionen, die nach 1945 geschaffen wurden.

STANDARD: Aber große Neuordnungen gibt es meist nur nach großen Katastrophen.

ElBaradei: Wir befinden uns bereits inmitten einer solchen. (Gudrun Harrer, 25.11.2015)