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Nach Ozus Tod, 1963, trat Setsuko Hara den Rückzug an.

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Tokio – Sie verstand sich auf die kaum sichtbaren Nuancen, die flüchtigen Gesten und verborgenen Blicke des Alltags, in denen das ganze Gewicht der menschlichen Existenz aufgehoben sein kann. Setsuko Haras Lächeln besiegelte ein wehmütiges Einverständnis mit dem Leben. Sie eröffnete den Filmen, in denen sie mitspielte, einen Freiraum der Zwischentöne, der die Kategorien vom glücklichen oder traurigen Ende souverän aufkündigte.

Um ihre Kunst zu begreifen, schaue man sich nur die letzte Szene aus "Die Mahlzeit" von Mikio Naruse an. Darin wägt sie die Chancen für eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Ehemann ab, den sie wegen seiner Teilnahmslosigkeit verlassen wollte. Nun treten sie die Heimreise an. Während er schläft, zerreißt sie ihren Abschiedsbrief. Die Fetzen fliegen im Fahrtwind des Zuges davon. Ihr Blick lässt keinen Zweifel, dass sie auch aus Trägheit zusammenbleiben werden. Dennoch ist in ihm ein Rest von Zuversicht zu spüren.

Berühmt wurde sie, zumal im Westen, durch ihre Töchterrollen in den Filmen Yasujiro Ozus. Mit "Später Frühling" begann ein Zyklus von sechs Stillleben der familiären Konflikte und Umbrüche, in denen Haras Charaktere sich aufopfern für das Glück ihrer Eltern. Ihre selbstbewusste Demut war grundiert von der Tatkraft und Hingabe, mit der sie während des Krieges zum Star in Propagandafilmen geworden war.

Nach dem Krieg erfand sie sich neu als Inbegriff der modernen Frau, die in Filmen wie Kurosawas "Kein Bedauern für unsere Jugend" (1947) ihrer Generation und der ihrer Eltern den Weg in die Zukunft weist. Das Klischee der "ewigen Jungfrau", das ihr Privatleben zu beglaubigen schien, wusste sie im Kino zu durchkreuzen. In Naruses "Das Geräusch der Berge" treibt sie das Kind ab, das sie von ihrem untreuen Ehemann nicht haben will.

Die 1920 in Yokohama als Aida Masae geborene Schauspielerin verlieh den Frauenbildern des japanischen Kinos eine Vieldeutigkeit, die sie den Ruhm großer Darstellerinnen wie Hideko Takamine und Kinuyo Tanaka überstrahlen ließ. Nach Ozus Tod desertierte sie aus dem Filmgeschäft, stand nie wieder für Interviews zur Verfügung. Unerkannt lebte sie in der Präfektur Kamakura. Dass sie bereits am 5. September an einer Lungenentzündung gestorben ist, erfuhr die Öffentlichkeit erst jetzt. (Gerhard Midding, 26.11.2015)