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Eine Tendenz zur Überbehandlung am Lebensende beobachtet Palliativmediziner Harald Retschitzegger. Diese habe zum Teil auch ökonomische Hintergründe.

Foto: APA/Helmut Fohringer

Wien – Über mehrere Monate befassten sich Experten und Politiker in Österreich mit dem, was im Leben gerne ignoriert wird: seinem Ende. Kaum waren im März die Abschlussberichte der parlamentarischen Enquete-Kommission zu "Würde am Ende des Lebens" und der Bioethikkommission im Kanzleramt dazu veröffentlicht sowie ein Ausbau der Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen beschlossen, wurde es wieder still um wichtige Fragen. Auch Deutschlands Beschluss von Anfang November, geschäftsmäßige Sterbehilfe zu verbieten, blieb hierzulande ohne Echo.

In diese Ruhe platzt nun ein Gerichtsfall in Salzburg, der heikle Punkte der Debatte wieder anrührt – und der zeigt, dass Österreich kaum einen Schritt weitergekommen ist. Anfang Oktober stand ein Anästhesist in Salzburg wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen vor Gericht, da er laut Anklage einer 79-Jährigen zu viel Morphin gespritzt habe. Grundlage ist ein Gutachten zum Blutspiegel der Frau. Es gilt die Unschuldsvermutung. Die Patientin soll Vorerkrankungen gehabt haben, nach einem Kreislaufkollaps reanimiert worden sein und dabei mehrere Knochenbrüche erlitten haben. Die Richterin entschied auf Unzuständigkeit, da ein Mordvorwurf im Raum stehe. Der Angeklagte kündigte Rechtsmittel an. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

"Absicherungsmedizin"

Medizinerverbände zeigten sich alarmiert. Der Verband der Intensivmedizinischen Gesellschaften Österreichs (Ögari) warnte davor, dass sich Ärzte indirekt von der Justiz gezwungen sähen, lebenserhaltende Therapien immer und pauschal anwenden zu müssen. Als Arzt müsse man erkennen, ob der Sterbeprozess bereits begonnen hat; diesen dürfe man nicht durch medizinische Maßnahmen verlängern, hieß es weiter von Ögari. Experten sprechen von einer "Defensivmedizin", einer "Absicherungs-" oder "Sicherheitsmedizin", der dadurch der Weg bereitet werde.

Jurist: Verfahren gegen Ärzte nehmen zu

Ein gleichartiger Fall wie jener in Salzburg sei in Oberösterreich bislang nicht vorgekommen, sagt der auf Medizinrecht spezialisierte oberösterreichische Rechtsanwalt Gerhard W. Huber. Er beobachte aber, dass "Strafverfahren gegen Ärzte in den letzten Jahren bedauerlicherweise zunehmen". Huber meint, die aktuelle Causa gründe "in hohem Ausmaß auf Missverständnissen zwischen behandelnden Ärzten, Ermittlungsbehörden und Sachverständigen". Zur Vermeidung ähnlicher Fälle brauche es plausible Dokumentationen der Mediziner, die proaktive Zusammenarbeit ihrer Anwälte mit Ermittlungsbehörden sowie bei Gericht die Bestellung von Sachverständigen, "die auch am Patientenbett stehen".

"Keine Rechtssicherheit"

Eine der Kernfragen ist, wann lebenserhaltende Maßnahmen noch und wann nicht mehr angebracht sind. Für diese Entscheidung bestehe für Ärzte im Vorfeld "keine Möglichkeit für Rechtssicherheit", stellte die Bioethikkommission in ihrem Bericht vom März fest. Die Kommission warnt nun vor einer "verstärkten Verlagerung medizinischer Entscheidungen zur Strafjustiz". Leiterin Christiane Druml sagte dem STANDARD, der aktuelle Gerichtsfall zeige, "dass es ganz wichtig ist, dem medizinischen Personal Rechtssicherheit zu geben". Es bestehe "die Gefahr der überproportionalen, unverhältnismäßigen Maßnahmen der Lebenserhaltung am Lebensende". Wobei auch die übermäßige Behandlung von Patienten strafbar sein kann – wenn sie gegen deren Willen geschieht. In Fachkreisen heißt es, derlei sei noch nie angeklagt worden.

"Wird kein Arzt mehr machen"

Dass die Morphindosis im Patientenblut Ärzten zum Verhängnis werden kann, erregt zahlreiche Mediziner. Es sei ein "massiver Rückschlag, wenn Ärzte wegen Blutspiegeln vor den Kadi müssen", sagt Arzt und ÖVP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger, der in der Enquete-Kommission saß. Die Morphindosis im Blut sei von vielen Faktoren abhängig und daher wenig aussagekräftig. Die Gesetze müssten "auch Barmherzigkeit zulassen" , sagt Rasinger. "Wenn man jede Morphiumgabe unter Mordvorbehalt stellt, wird das kein Arzt mehr machen." Im Büro des Justizministers Wolfgang Brandstetter (ÖVP) heißt es, die Gesetze seien derlei gestaltet, dass es für Prüfungen im Einzelfall genügend Spielräume gebe.

Ökonomische Hintergründe

Tendenzen zur Überbehandlung am Lebensende hätten teils auch einen ökonomischen Hintergrund, meint Harald Retschitzegger, Leiter der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG). In der Ärzteschaft sei zudem die Mentalität verbreitet, dass "alles, was ich nicht mache", besonders zu dokumentieren und argumentieren sei und eher ein Risiko berge, sagt der Arzt mit Palliativausbildung. Zudem werde das Arzt- Patienten-Gespräch nicht honoriert. Auch brauche es mehr Ärzte mit palliativmedizinischem Wissen. Eine Facharztausbildung sei in der neuen Ausbildung – "leider" – nicht vorgesehen. Man arbeite aber an fächerübergreifenden Zusatzausbildungen.

Palliativkoordinator sollte längst fix sein

Entsprechend qualifiziertes Personal wird es für den vom Parlament beschlossenen Ausbau der Palliativmedizin brauchen. Für diesen sollen 2016 und 2017 je 18 Millionen Euro zusätzlich zum Status quo investiert werden. Details zur Finanzierung sollen erst die Finanzausgleichsverhandlungen klären. Bis Ende September hätte auch ein unabhängiger Hospiz- und Palliativkoordinator eingesetzt werden sollen. Die Einrichtung eines Hospiz- und Palliativforums lässt ebenso auf sich warten. Beides werde vorbereitet, hieß es Anfang November in einer Anfragebeantwortung der Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser (SPÖ). Das sei der Stand der Dinge, hieß es nun aus ihrem Büro. (Gudrun Springer, 29.11.2015)

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