Wien – Der Fähigkeit von Musik, konkrete Inhalte zu übermitteln, ist gehörige Skepsis entgegenzubringen. Sind gewisse biografische Bezüge zwischen Komponist und der von ihm geformten Notenwelt historisch verbürgt, ist allerdings erstaunlich Konkretes aus Strukturen herauszuhören. Bei Dmitri Schostakowitschs zehnter Symphonie (aus dem Jahre 1953) scheint im ersten Satz die Angst ganz dicht erkennbar zu werden. Sie wurde meisterlich in Formen irritierter, ihre Richtung suchender, jedoch sie nicht findender Linien gegossen.

Weinerliche Streicher

Markant auch der zweite Satz, der – nach Bekunden des Komponisten – mit Stalin zu tun hat: Im Wiener Musikverein wuchten die Wiener Philharmoniker unter Mariss Jansons pompöse, bombastische Energie in den Raum. Gleichzeitig scheint – um das Aufdringliche herum – ein weinerlicher Streicherunterton zu kreisen. Als gelte es, auf die selbstmitleidige Gebrechlichkeit des Diktators hinzuweisen.

Nicht weniger eindringlich der dritte Satz; es liegt sarkastisch vorgeführte Banalität in der Luft. Melodien treten dann allerdings auf, die wieder – angstvoll tastend – gewissermaßen am eigenen Verschwinden zu arbeiten scheinen, bis dann im Finale eine Gelöstheit Einzug hält, aus der etwas Authentisches strahlt.

Jansons ist der akribische Exeget dieser Strukturen. Er nutzt den weichen Klang der Philharmoniker, schafft es aber auch, das Ambivalente dieses Werkes klanglich grell einzufangen. Analyse und orchestrale Sinnlichkeit verschmelzen auf das Delikateste, was auch für das Neujahrskonzert der Philharmoniker hoffen lässt. Es dirigiert heuer Jansons.

Vor Schostakowitsch präsentierte man die Psalmen-Symphonie von Igor Strawinsky: Imposant und klangvoll die Arbeit des Singvereins, zumal dieses Werk mit seinem Hang zur Verinnerlichung und zu minimalen Bewegungen bisweilen am Rande des Stillstands landet.

Es stellt eine Herausforderung dar, das Werk, mit seiner mitunter neobarocken Kontrapunktik, vor dem Zerbrechen zu bewahren. Nach Schostakowitschs Symphonie war der heikle Beginn aber längst vergessen. Tosender Applaus für Jansons. (Ljubisa Tosic, 1.12.2015)