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Heute ist der Freeride-Aufschwung nicht nur allein am Sport festzumachen, sondern ebenso am Lifestyle, der damit einhergeht.

Foto: APA / EPA / Maxime Schmid

Der alte Mann auf dem Gipfel fällt auf. Er hat eine Wollmütze auf, die den Bommel angenäht bekam, längst bevor diese wieder angesagt waren. Die Handschuhe stecken in Lederschlaufen alter Skistöcke. Die Skier: lang und vergleichsweise schmal. Die klobigen Skischuhe sehen ebenso archaisch aus. Rings um das Gipfelkreuz am steirischen Hochschwung in den Rottenmanner Tauern genießen auch jüngere Tourengeher und Freerider die Aussicht über die tiefverschneiten Berggipfel, sie tauschen sich über ihre Hightech-Skibindungen, ihre breiten Latten und ihre bunte Funktionskleidung aus. Als über die gemeinsame Abfahrtsvariante im Pulverschnee diskutiert wird, stimmt der Alte – er dürfte am 70er kratzen – ins Gespräch ein.

Jenen steilen Schattenhang empfehle er wegen der Windverfrachtungen nicht, sagt er. Was insofern ein Problem darstellt, weil die kleine Freeride-Gruppe den anderen herausfordernden Hang, der in der Mittagssonne liegt, eigentlich ausgeschlossen hat. Der Bergfex, der die Zahl seiner dutzenden Besuche am Hochschwung nicht nennen kann, denkt kurz nach und sagt: "Der dürfte gehen. Wir haben Lawinenwarnstufe drei."

Tiefschnee-Abfahren wurden schon vor vielen Jahrzehnten gemacht

Wenig später ist der bislang unberührte Hang von Spuren übersät, in den Gesichtern der unten Ankommenden hält sich unter dem Helm hartnäckig ein breites Grinsen. Dem Rat des Alten ist nicht nur die kleine Gruppe gefolgt, sondern fast alle Skisportler vom Gipfelkreuz.

Auch wenn die Skiindustrie samt dem angeschlossenen Tourismus das Fahren im freien Gelände als neuen Trend verkauft: Das Wedeln im Pulverschnee ist so alt wie der Sport selbst. Freeriden kommt aus einer Zeit, als plattgewalzte Autobahn-Skipisten und Schneekanonen noch nicht existierten. Die Landschafts- und Actionszenen im legendären Schwarz-Weiß-Film "Der weiße Rausch" aus dem Jahr 1931 dokumentieren das bestens: Tiefschnee-Abfahrten und waghalsige Sprünge über Klippen wurden schon vor 84 Jahren gemacht – damals aber halt noch mit dünnen Holzlatten und mit Bindungen, die hinten offen waren.

Bunt & schrill

Heute ist der Freeride-Aufschwung nicht nur allein am Sport festzumachen, sondern ebenso am Lifestyle, der damit einhergeht. Bunter, schriller, unangepasster. Oder man fasst alle Adjektive, die sich findige Marketingmenschen zu diesem Thema einfallen haben lassen, zu einem zusammen: Freerider sind "anders". Und damit ebenso anders wie Skater, Surfer und Wakeboarder.

Im Tiefschnee sind in Österreich etwa ab Mitte der 1980er-Jahre zunächst die Snowboarder vorangestapft, ehe viel später auch die Skifahrer die Vorteile breiteren Materials unter den Füßen im freien Gelände zu nützen und den lässigen Lifestyle zu schätzen wussten. Die Freeride-Szene hat sich – mit vielen gewünschten Durchlässigkeiten – seither ordentlich aufgesplittet: So gibt es die traditionellen Tourenskigeher, die mit Fellen unter ihren Skiern bergwärts schreiten und das Naturerlebnis ebenso wichtig erachten wie Aufstieg und (meistens nur eine lange) Abfahrt. Dasselbe gilt für Snowboarder, die ihr Arbeitsgerät für den Aufstieg teilen und in ein Splitboard verwandeln. Klassische Freerider auf Skiern oder Boards schätzen hingegen auch die Annehmlichkeiten von Gondeln und Liften, um sich abseits der Pisten mehrmals pro Tag einen Weg ins Tal zu bahnen. Das kostet extra: Tagestickets haben in einigen Skigebieten in Österreich die 50-Euro-Marke überschritten.

Und dann gibt es noch die Freestyler, die mit ihren breiten Latten Sprünge und andere Tricks über Hindernisse und Schanzen zeigen. Der vorhergehende Satz könnte inhaltlich auch so lauten: Freestyler rocken den Park und zeigen Tricks und Airs in Halfpipes, über Kicker und auf Rails. Bei den ganzen Anglizismen, die diesem jungen Sport innewohnen, erscheint es fast ungewohnt, auf diese zu verzichten.

Pulverschnee-Weltcup

Das Anwendungsgebiet der an beiden Enden aufgebogenen Freestyle-Skier ist nicht nur auf Skigebiete beschränkt: Mittlerweile zeigen einige Stars der Szene im Pulverschnee-Weltcup, der sogenannten Freeride World Tour (FWT), schnelle Schwünge von steilen Berghängen hinab und jagen über meterhohe Felsen, aber nicht ohne gleichzeitig auch Saltos, Drehungen und mehr gezeigt zu haben.

Bei der FWT gibt es anders als im Ski-Weltcup nur zwei Tore zu passieren: eines ganz oben, eines ganz unten. Dazwischen müssen die Fahrer für die Juroren vor allem Stil, Eleganz und Sicherheit zeigen. Das gelang der Salzburgerin Eva Walkner im verwichenen Winter hervorragend, sie ist aktuelle Weltmeisterin bei den Skifahrern. 2013 gewann die Vorarlbergerin Nadine Wallner.

Der 40-jährige Tiroler Freeride-Routinier Flo Orley hält die Fahnen bei den Snowboardern hoch und wurde 2015 Gesamtdritter. "Einmal geht's noch", sagt Orley und meint sein letztes Wettkampfjahr bei der FWT, ehe er sich vollends auf Freeride-Filme konzentrieren will. Das Highlight lieferte Orley 2011, als er Vizeweltmeister wurde, obwohl er sich unmittelbar davor ein ganzes Jahr Auszeit für einen Segeltrip genommen hatte. Mit einem elf Meter langen Katamaran wollte er mit seiner Frau Nina von Guatemala aus den Pazifik überqueren. "Auf Bora Bora schlug dann der Schwangerschaftstest an", erzählt Orley. "Auf dem Inselstaat Tonga war dann Schluss."

Die Entwicklung der bunten Freeride-Szene hat aber auch Auswirkungen auf den traditionellen Markt. Die Technologie der "Rocker", das sind drehfreudige, fehlerverzeihende Skier mit negativer Vorspannung, wurde auf die Piste transferiert. Das klassische Mischprodukt feiert unter der Bezeichnung "All Mountain" in der Masse der Wintersportler Erfolge. Der Aufstieg der breiten Freeride-Skier kennt aber einen klaren Verlierer: das Snowboard. "Mittlerweile werden bereits weniger Snowboards als Tourenski verkauft", sagt Alexander Raffeiner vom Verband der Sportartikelerzeuger und Sportausrüster Österreichs (VSSÖ). Weltweit wandern aktuell jährlich rund 15.000 Tourenski und etwa 40.000 Freeride/Freestyle-Skier über den Verkaufstresen.

Gegenüber dem Boom, den die Carving-Ski auslösten und der in den 1990ern für weltweit acht Millionen verkaufte Geräte pro Jahr sorgte, ist der Freeride-Trend noch vergleichsweise bescheiden. Die Skiverkäufe weltweit sind auf insgesamt 3,1 Millionen zurückgefallen.

Skiindustrie stagniert

In Österreich stagniert die Skiindustrie seit einigen Jahren: In der Saison 2013/2014, so die aktuellen Zahlen der Federation of the European Sporting Goods Industrie (Fesi), wurden insgesamt 366.000 Paar Ski an den Handel ausgeliefert – darunter mehr als viermal so viele Herren- als Damenski. 50 Prozent der Skier wandern mittlerweile in den Verleih.

Aber zurück in den Tiefschnee: Dort sorgt der Freeride-Trend auch dafür, dass mit dem steigenden Interesse die Risiken der winterlichen Bergwelt in den Vordergrund rücken. Aus Sicherheitsgründen sind Lawinenverschütteten(LVS)-Suchgerät, Schaufel und Sonde bei Abstechern ins freie Gelände nicht mehr wegzudenken, dazu kommen Lawinenairbag und – wie bei Pistenfahrern auch – Helm und Rückenprotektor. Organisationen wie Alpenverein und Naturfreunde oder Anbieter wie The Freeride Experience und Skitourenwinter.at bieten Lawinen- und Freeride-Kurse mit erfahrenen und ausgebildeten Bergmenschen an.

So verlockend die nächtlichen Schneefälle und das darauf folgende traumhafte Wetter inklusive blitzblauen Himmels auch sein mögen: Der in der Wintersaison täglich auf www.lawine.at aktualisierte Lawinenlagebericht sollte von Freeridern genau gelesen werden. Auf die Region heruntergebrochen lässt sich etwa erfahren, ob es Probleme mit Triebschnee, also vom Sturm verwehtem Schnee, gibt, der mit der Altschneedecke nur schwach verbunden ist. Bei Lawinenwarnstufe drei ("erheblich") der fünfteiligen Skala rät die Strategie "Stop or Go" des Alpenvereins zudem, Hänge mit mehr als 35 Grad zu meiden. Bei Stufe vier ("groß") sind Geländekammern mit mehr als 30 Grad steilen Hängen tabu.

Trotz aller Vorbereitungs- und Sicherheitsmaßnahmen bleibt dennoch ein Restrisiko. Bei schwierigen Entscheidungen sollten Wintersportler Demut vor dem Berg zeigen und lieber einmal öfter abbrechen. Oder auf die erfahrenen alten Hasen auf dem Berggipfel hören. Im vergangenen Winter starben 25 Menschen nach Lawinenabgängen, so viele wie seit der Saison 2009/10 (35 Tote) nicht mehr. (David Krutzler, RONDO, 1.1.2016)