Zugegeben, Keramik ist nicht unbedingt eine Disziplin, die auf Anhieb mit Gegenwart und Trend assoziiert wird. Zu stark wirken die Assoziationen mit großelterlichem Teeservice, kitschige Figurensammlungen und sonstigem Nippes. Und dennoch: Keramik schüttelt das angestaubte Image von sich – ausgelöst durch eine junge Gestaltergeneration und ein gestiegenes Interesse an Kunsthandwerk.

Ein Motor dieser Entwicklung ist Stoke-on-Trent mitten in England. Seit dem 17. Jahrhundert gilt die Stadt als Zentrum der britischen Keramikindustrie. Doch auch hier sah es lange düster aus. Waren 1980 noch 50.000 Arbeiter in den Werkstätten von Stoke beschäftigt, sind es heute kaum mehr als 9.000. Trotz dieses Schrumpfungsprozesses hat sich die Lage heute stabilisiert – nicht zuletzt dank zahlreicher junger Keramikgestalter, die sich in der Region niederlassen haben und fernab vom quirligen London die Tradition neu beleben.

Ragna Mouritzen füttert den Computer mit Zeichnungen, dieser wandelt sie in dreidimensionale Plastiken um, die vom 3-D-Drucker ausgespuckt werden – temperamentvolle und doch von einer Maschine produzierte Objekte.
Foto: Ole Akhøj

Als Plattform für ihre Kreationen dient die britische Keramik-Biennale, die vor kurzem zum vierten Mal in Stoke-on-Trent stattfand. Der Schwerpunkt des Festivals liegt auf Arbeiten, die die Grenzen zwischen Kunst, Kunsthandwerk und Gebrauchsobjekt verschwimmen lassen. Keramik wird von ihnen als ein Material von poetischer Leichtigkeit und taktiler Sinnlichkeit begriffen. Auch schimmernde Farben und haptische Texturen spielen eine wichtige Rolle, die sich maßgeblich vom sterilen Glanz industriell gefertigter Massenkeramik unterscheiden.

Computer & Zufall

"Diese Arbeiten verbindet das Be- streben, das kreative Potenzial von Ton auszutesten", erklärt Barney Hare Duke, künstlerischer Leiter der British Ceramics Biennial 2015. Ein Sprungbrett für neue Talente ist die Sektion "Fresh", die Absolventen von Design- und Kunsthochschulen vorbehalten ist und Keramik alles andere als in die Vergangenheit verortet. Verstärkt werden die Möglichkeiten ausgelotet, den handwerklichen Herstellungsprozess mit computerbasiertem Entwerfen und 3-D-Druck zu verbinden.

Ein Beispiel dafür sind die raffinierten Objekte aus der Serie "Making Drawing 2" der dänischen Designerin Ragna Mouritzen, bei denen sich unzählige Ebenen filigraner Tonschichten überlagern. Als Vorlage dient jeweils eine Zeichnung, die nach dem Zufallsprinzip variiert wurde. Mouritzen nimmt eine Zeichnung, entwickelt daraus ein Computermodell und lässt dieses mit dem 3-D-Drucker ausdrucken.

Von Hand und am Computer

Indem sie die Parameter beim Drucken variiert, entstehen zufällige und unkontrollierbare Abweichungen – weswegen sich die Objekte mitunter stark unterscheiden. "Dies zeigt einen weitaus organischeren und temperamentvolleren Prozess, als wir ihn von Maschinen normalerweise gewöhnt sind", erklärt die Absolventin der University of Arts in London. Worauf es ihr ankommt, ist die Verbindung der Ansätze. Schließlich könnten ihre Objekte weder allein von Hand noch allein von Maschinen produziert werden.

Auf digitale Hilfsmittel setzt auch die junge japanische Designerin Reiko Kaneko, die ihr gleichnamiges Porzellanlabel von London nach Stoke-on-Trent verlegte. "Ich skizziere meine Ideen und modelliere sie danach sofort am Computer", sagt die in Großbritannien geborene und in Japan aufgewachsene Gestalterin. Werden die Formen von ihr mit technischer Präzision bestimmt, sind die kräftigen Farblasuren dagegen dem Zufall unterworfen. Auch hier greifen Gegenwart und Tradition auf untrennbare Weise ineinander.

Brodelnde Masse

Sinnlichkeit und Atmosphäre spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Eine archaische Wirkung entfachen dabei die "Geysire" der englischen Keramikerin Caroline Tattersall, bei denen Tonmasse in großen Keramikschalen zum Schmelzen gebracht wird. Die aufsteigenden Blasen und Dämpfe lassen nicht nur an gurgelnde Geysire auf Island denken. Indem das Material seine feste, physische Gestalt verliert, wird das Ephemere und Veränderliche der Keramikproduktion beeindruckend eingefangen.

Basisarbeit leistet unterdessen der englische Keramiker Neil Brownsword mit seinem Projekt "Re-apprenticed". Auf Video dokumentiert er die Fähigkeiten und Tricks von erfahrenen Handwerksmeistern aus der Region um Stoke-on-Trent, um sie so auch künftigen Generationen zugänglich zu machen. Dass Keramik dabei längst als Teil der nationalen Identität verstanden wird, zeigt die jüngste Entwicklung der 1759 gegründeten Porzellanmanufaktur Wedgewood.

Bei den Gefäßen von Reiko Kaneko (li. unten) geschieht die Farblasur per Zufall, die tierisch- organische Porzellanskulptur (Mitte) stammt von Aneta Regel. Klassischer sind die Geschirrkombinationen von Charlotte Hodes.
Foto: Sarah Christie; Reiko Kaneko; Aneta Regel

Als das in Stoke ansässige Unternehmen 2009 in Insolvenz ging, hätte die 80.000 Objekte umfassende Sammlung des Firmenmuseums verkauft werden sollen. Dies rief einen Sturm der Entrüstung hervor, der in einer regen Spendentätigkeit von Privatsammlern und Keramik-Enthusiasten mündete. 2014 konnte schließlich die gesamte Kollektion erworben und als Schenkung in die Hände des Londoner Victoria & Albert Museum gegeben werden.

Mit diesem Schachzug sind die Exponate nicht nur dauerhaft vom Schicksal des Unternehmens Wedgewood entkoppelt worden – unter der Regie des Londoner Ausstellungshauses ist auch das Wegdewood Museum im Sommer 2015 jovialer inszeniert worden, passend zum Keramikrevival in der englischen Provinz. (Norman Kietzmann, RONDO, 19.1.2016)