cover: act

Michael Wollny: "Nachtfahrten" (act)

Es beginnt entspannt, gemächlich umschmeicheln poppige Akkorde das Ohr, tragen ihrerseits eine nette Melodie, welche sich nicht anschickt, Improvisationen Platz zu machen – wie es beim deutschen Pianisten Michael Wollny zu erwarten gewesen wäre. Der Song Ques tions In A World Of Blue von Angelo Badalamenti bleibt quasi bei sich. Erstaunlich.

Wollny gehört zu den etablierten Hoffnungsträgern der europäischen Szene; er ist ein typischer Zeitgenosse: Offen in alle Stilrichtungen, keine Scheu vor Zugänglichem und vor Traditionalismen – und doch auch immer bereit, sich ins Abenteuer der freien Improvisation zu stürzen, selbst gestaltend einzugreifen.

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So enttäuscht er auch hier nicht: Schon bei Nachtmahr verdunkelt sich die Atmosphäre, es wird akkordisch unheimlich. Und bei Motette No. 1 schließlich bricht er aus, der rasante, pointierte Spontankünstler, der anspruchsvolle Linien entwickelt und dynamischen Modern Jazz zelebriert. Natürlich ist der CD-Titel Nachtfahrten ein bisschen Programm. Es geht tendenziell doch um Schummriges nahe an der Stille, um Poesie, Romantik. Balladen wie Metzengerstein offenbaren aber ein melodisches Vermögen, auch die Fähigkeit dieses Material weiterzuspinnen und in kontrapunktischer Manier zu verarbeiten. Da ist Sub stanz, bei Wollny ist kein Ton zufällig dahingetupft, einfach so hingeworfen.

Zusammen mit Christian Weber (am Bass) und Eric Schaefer (am Schlagzeug) interpretiert er die traditionsbeladene Formation des jazzigen Klaviertrios mit Leichtigkeit so, dass er neben Vorbildern zu bestehen vermag. Gelassen auch das französische Volkslied Au clair de la lune. Hier wird es evident: Wollny geht es diesmal um Einfachheit, aber immer in Verbindung mit Gestaltungstiefe und zartem Grusel. (toš)

cover: ecm

Enrico Rava: "Wild Dance" (ECM/Lotus)

Es ist ja nicht gerade so, dass die Position des lyrischen Trompeters in der Jazzgeschichte unbesetzt geblieben wäre. Wer immer heutzutage seine versonnene Instrumentalstimme in diesem Bereich erhebt, wird sich immer an Schwermütigen wie Miles Davis oder Chet Baker messen lassen müssen. Es sind zu viele gültige melancholische Statements erinnerlich, als dass ein Nachkomme, sofern er auf höchstem Niveau mitagieren will, nicht höllisch aufpassen müsste, um im historischen Kontext nicht kläglich dazustehen.

Beim italienischen Altmeister Enrico Rava ist allerdings keinerlei Gefahr zu erkennen, als dürftiger Plagiator der instrumentalen Schwermut zu wirken. Zusammen mit Francesco Diodati (an der Gitarre), Gabriele Evangelista (am Bass), Enrico Morello (am Schlagzeug) hat er eine Einspielung vorgelegt, die zwar den Titel Wild Dance trägt, aller dings kann dies nur ein sehr subjektiv gewählter Oberbegriff sein, denn wild – im offensichtlichen Sinne – ist hier nichts.

Zwar ist Rava im Detail seiner Improvisationen natürlich mehr als nur ein zarter Faserschmeichler – sein substanzvoll-wattiger Ton trägt sanfte Linien –, an den Linienrändern jedoch "rastet" Rava gerne aus, gibt der Phrase einen diskreten, aber doch aggressiven Dreh. Ganz klar: Der Virtuose verbirgt nicht, dass er des Hard Bop ebenso mächtig ist wie des freien Spiels. Dies jedoch nur für kurze Momente, auch bei einer Nummer wie Infant, die ein knackig-lustiges Thema präsentiert, bis die Gitarre deftige Wolken ausbreitet, in die Rava monologisierend eintaucht.

Mit Fortdauer der Einspielung (mit dabei ist als Gast auch Posaunist Gianluca Petrella) beginnen lustig-rasende Themen zu dominieren (Cornette, Happy Shades). Aber es kehrt alles doch immer wieder zum Elegischen zurück. (toš, 4.12.2015)