Wien – Für viele Ökonomen und manche Politiker ist es das Reizwort par excellence: die kalte Progression. Darunter versteht man jenen Effekt, der für eine schleichende Steuererhöhung verantwortlich ist, die Jahr für Jahr viele Arbeitnehmer trifft. Von der kalten Progression sprechen Experten, wenn Löhne in Höhe der Inflation steigen, die Kaufkraft der Menschen sich real also nicht verändert. Doch durch die Inflationsanpassung rutschen viele Arbeitnehmer mit einem Teil ihres Gehalts in eine höhere Steuerstufe. Real erleiden sie also einen Kaufkraftverlust.

Zuletzt hat Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) die Diskussion befeuert: Schon im Zuge der Steuerreform 2016 hätte er die kalte Progression, die er als "Geschenk" an den Staat bezeichnet gern abgeschafft. Das ist nicht gelungen. Schelling versprach, dies nachzuholen. Im Sommer etwa kündigte er an, ab 2017 die Höhe der einzelnen Steuerstufen an die Inflation koppeln zu wollen. Der Schritt würde den Staat rund 400 Millionen Euro im Jahr kosten.

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Schelling will kalte Progression abfedern.

Eine am Freitag präsentierte Berechnung der Statistik Austria zeigt aber, dass die Abschaffung der kalten Progression deutlich teurer werden könnte. Auf Basis der Einkommenssteuerdaten haben die Statistiker ausgerechnet, wie viel es gekostet hätte, wenn man in Österreich die Tarifstufen seit 2010 voll an die Inflation angepasst hätte. Im ersten Jahr wären dem Staat demnach tatsächlich nur etwas mehr als 400 Millionen Euro an Einnahmen entgangen. Doch im zweiten Jahr würden dem Fiskus schon 1,1 Milliarden Euro fehlen, im vierten Jahr summiert sich der Entgang schon auf 2,3 Milliarden Euro. Der Grund dafür: Mit jedem Jahr steigt die Zahl der Gehälter, die in eine höhere Tarifstufe fallen. Ohne höhere Steuerstufe summieren sich also die Verluste für den Staat.

2,3 Milliarden Euro sind eine stolze Summe. Die gesamten Einnahmen der Republik aus der Einkommenssteuer betrugen im Jahr 2014 rund 27,1 Milliarden Euro.

Schelling selbst hat offengelassen, mit welchem Modell er der kalten Progression beikommen will. Im Finanzministerium hieß es am Freitag, dass man an einem Vorschlag arbeite und ihn im kommenden Jahr mit dem Koalitionspartner SPÖ diskutieren werde.

ÖGB macht Druck

Unterstützung am Freitag kam für den ÖVP-Minister ausgerechnet vonseiten der Arbeiterkammer und der Gewerkschaft. Laut Statistik Austria ist das Lohnsteueraufkommen im vergangenen Jahr um 4,7 Prozent gestiegen. Die Bruttobezüge stiegen dagegen nur um 2,7 Prozent. Der ÖGB forderte angesichts dieser Zahlen bis spätestens 2017 Maßnahmen, um die kalte Progression abzufedern. Nur dadurch könne die Entlastung der Steuerreform im kommenden Jahr erhalten werden, so ÖGB-Präsident Erich Foglar. Allerdings nützt Foglar hier indirekt eine Unschärfe. Denn nur ein Teil des Unterschieds zwischen Steueraufkommen und Entwicklung der Bruttolöhne geht auf die kalte Progression zurück. Wer wegen einer Vorrückung mehr verdient, rutscht vielleicht ebenso in eine höhere Steuerklasse. Das ist allerdings gewünscht, die Steuerlast soll ja progressiv verteilt sein.

Überhaupt finden sich Gegenargumente gegen einen Ausgleich für die kalte Progression. So hat der Staat öfter Einkommenssteuern gesenkt (2000, 2004/2005, 2009, 2016). Die Bürger wurden also teilweise entschädigt. Zugleich müssen auch Ausgaben an die Inflation angepasst werden, etwa die Familienbeihilfe. Die kalte Progression abzuschaffen würde aber Mittel für derartige Erhöhungen wegnehmen. Schließlich profitieren Bürger auch davon, dass einige Steuern nicht mit der Inflation steigen, sagt Margit Schratzenstaller vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo. Sie nennt als Beispiel die Mineralölsteuer, die auf Literbasis berechnet wird und zuletzt 2011 angehoben wurde. Tanken ist also auch ohne den niedrigeren Ölpreis günstiger geworden.

Schratzenstaller plädiert dennoch für einen Ausgleich für die kalte Progression, weil es sinnvoll wäre, die Kaufkraftverluste bei den Bürgern auszugleichen.

Die Statistik Austria präsentierte am Freitag auch Daten zur allgemeinen Lohnentwicklung im vergangenen Jahr. Die Zahlen zeigen wieder einmal, wie groß die Einkommensunterschiede sind. (András Szigetvari, 5.12.2015)