Europa hat kein Flüchtlingsproblem, es gibt aber ein großes Problem der Flüchtlingspolitik." Mit diesem Satz hat der in Wien lehrende Professor für Internationales Recht und Menschenrechte, Manfred Nowak, bei einem Europaforum in Lech am Arlberg für Aufhorchen gesorgt.

Der Österreicher ist – spätestens seit seinem Einsatz als ein von der UN-Menschenrechtskommission berufener Sonderberichterstatter über Folter – eine internationale Größe auf den Gebieten Krisen und Kriege, Menschenrechte und Konfliktbewältigung.

Nowaks Klarstellung ist in der aktuell angespannten politischen Lage in fast allen EU-Staaten so interessant, weil er uns Europäern den Spiegel vorhält: nicht nur den Regierungen. Er trifft auch uns Bürger.

Die Debatte, wie man mit den hunderttausenden Flüchtlingen umgehen soll, die 2015 vor allem in die wohlhabenden EU-Staaten in Zentral- und Nordeuropa strömten, ist stark von zwei Charakteristika geprägt: einerseits von Emotionen, andererseits von Illusionen. Genau das aber macht das Finden von politischen Lösungen, von vernünftigen Kompromissen schwerer, als es aufgrund der Komplexität der Krisen und Probleme in den Nachbarnländern ohnehin schon ist.

Besonders stark zeigt sich das in den Auseinandersetzungen in den meistbetroffenen Ländern, in Deutschland, in Österreich, zunehmend auch im diesbezüglich bisher eher coolen Schweden. Zwischen denen, die die Flüchtlinge aufs Übelste verunglimpfen, sie pauschal als Bedrohung sehen, sie "zurückschicken" wollen, und der anderen Seite, die die Ankommenden auffallend schönredet, von Schattenseiten wenig wissen will, bleibt immer weniger Platz für Zwischentöne.

Der Ruf nach der "einfachen Lösung" hat Konjunktur – eine reine Illusion: Die Sprüche von der angeblich nötigen Rückkehr zum Nationalstaat sind genauso naiv wie die Vorstellung, Kontrollen und Grenzsicherung seien Instrumente reaktionärer Kräfte. Die Flüchtlinge werden so zum billigen Projektionsfeld der eigenen Wünsche, Sorgen und Bedürfnisse. An diesem Punkt schlug nun Nowak einen Pflock ein, er nimmt eine Korrektur vor, die man sich in der europäischen Politik in den kommenden Wochen und Monaten zum Leitmotiv machen sollte: Die Flüchtlinge selber können nichts dafür, dass sie Flüchtlinge sind. Sie wollen einfach nur (über)leben.

Aber die Regierungen und auch wir Bürger sind jetzt dringend gefordert, unsere ganze Aufmerksamkeit, unsere Debatten darauf zu konzentrieren, was das eigentliche Problem ist: Die EU-Staaten und ihre gemeinsamen EU-Institutionen haben bei Formulierung und Ausführung der Migrations-und Flüchtlingspolitik, beim Öffnen der Binnengrenzen gemäß Schengen und dem Schutz der Außengrenzen eklatante Fehler gemacht.

Die Regeln waren – ganz ähnlich der Situation beim Ausbruch der Eurokrise im Mai 2010 – völlig unzulänglich. Europa leistet sich auch den "Luxus", weder eine gemeinsame Außen- noch eine Sicherheitspolitik zu haben.

Diese Defizite müssen nun Punkt für Punkt abgearbeitet werden. Das wird, wie in der Eurokrise, Jahre in Anspruch nehmen. Insofern ist die Initiative der österreichischen Regierung zu einem Flüchtlingsgipfel der "willigen" Länder realistisch und eine gute Sache. EU-Nationalstaaten und EU-Institutionen werden scheitern, wenn sie gegeneinander arbeiten. Irgendjemand muss endlich beginnen – notfalls eine Gruppe von Staaten. (Thomas Mayer, 6.12.2015)