Czernohorszky: "Keine Auslese über Noten, stattdessen persönliche Förderung für jedes Kind."

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Der Wissenschafter Ednan Aslan hat muslimische Kindergärten untersucht und festgestellt, dass die Erziehung dort die Entstehung von Parallelgesellschaften fördert. Stimmt das?

Czernohorszky: Ich bin für Schulen, nicht für Kindergärten zuständig. Deshalb nur so viel: Das ist eine Vorstudie. Vom telefonischen Anrufen eines kleinen Prozentsatzes einer ohnehin schon kleinen Gruppe würde ich nur mitnehmen, dass es ein zentrales Thema ist und dass wir hier so schnell wie möglich mehr Informationen bekommen müssen. Wir müssen eine große, vernünftige Studie angehen. Bis dahin können wir nur machen, was wir schon machen: laufend darauf zu achten und, wenn es einen Anlassfall gibt, zu prüfen.

STANDARD: Ist das in der Vergangenheit zu wenig passiert?

Czernohorszky: Die Beispiele, die gebracht wurden, sind offensichtlich nicht gemeldet worden. Wäre das passiert, hätte die MA 11 schon früher einschreiten können.

STANDARD: Sind konfessionelle Kindergärten bisher zu großzügig gefördert worden?

Czernohorszky: Die Gesellschaft, in der wir leben, ist keine religionsfreie. Der Großteil der konfessionellen Kindergärten ist katholisch. Hier würde man auch nicht sagen, dass es ein Problem ist, dass sie gefördert werden. Dieses Thema kann man nicht über die Förderung klären. Wie bei allen pädagogischen Berufen ist es eine Frage davon, was passiert, welche Regeln gelten und wer die Einrichtungen prüft. Man kann das nicht mit einer simplen Regel beantworten, sondern muss hinschauen.

STANDARD: Ist zu wenig hingeschaut worden?

Czernohorszky: Meine Erfahrung ist, dass sehr genau hingeschaut wurde. Es gibt eine intensive Arbeit im Deradikalisierungsnetzwerk, wo Experten aus allen Bereichen das genau untersuchen. Und es gibt harte und weiche Maßnahmen. Die harten sind: Wenn Gesetze gebrochen werden, ist die Polizei vor Ort. Die weichen spielen sich auf der Beziehungsebene ab. Zuerst wird mit den Eltern und dem Kind geredet. Es gibt das Thema, es ist aber auch nicht so, dass es in den vergangenen Monaten zu einer starken Häufung der Fälle gekommen wäre.

STANDARD: Die Stadt Wien will 100 Personen zusätzlich gegen das Problem der Radikalisierung an Schulen einsetzen. Was wird deren Aufgabe sein?

Czernohorszky: Wenn das Ziel ist, dass alle in der Schule mitgenommen werden, dann ist es manchmal mehr und manchmal weniger eine Herausforderung. Einzelne Schulen brauchen dafür zusätzliche Unterstützung. Eine Maßnahme, die wir in der Stadt ergreifen, ist, Personal als sozialarbeiterische und psychologische Hilfe anzubieten. Das kann aber beispielsweise auch Gewalt in der Schule betreffen. Dort, wo Unterstützung gebraucht wird, soll es Leute geben, die Lehrern helfen.

STANDARD: Aber es ist doch ein Unterschied, ob Kinder in den Jihad ziehen oder zu Hause bleiben. Ist das ein Integrationsproblem?

Czernohorszky: Schule ist der Integrationsmotor. Ihr Erfolg kann auch daran gemessen werden, wie viele Kinder mitgenommen werden.

STANDARD: Ein Direktor einer Mittelschule hat kürzlich im STANDARD gesagt, dass Jihadismus und Islamismus ein Jugendkult sind. Viele haben dem zugestimmt. Wie drängend ist also das Problem?

Czernohorszky: Es wäre der falsche Weg, das Problem wegzureden. Wenn ich möchte, dass Kinder individuell abgeholt und begeistert werden können, muss ich darauf achten, wo Kinder unter Druck gesetzt werden, wo sie Extremismen ausgesetzt werden und wo das Grundaufklärerische an Schule eingeengt wird. Dagegen muss mit aller Kraft aufgetreten werden. Das betrifft religiöse Extremismen genauso wie Rechtsextremismus oder Anpassungsdruck. Wenn Jugendliche einengende Lebensweisen diktiert bekommen, dann stehen sie unter Druck. Beruhigend ist, dass es bei allen Fällen, von denen ich weiß, eine gute Zusammenarbeit mit dem Stadtschulrat gab. Das funktioniert, darauf kann man aufbauen.

STANDARD: Bei den zwei Mädchen aus Wien-Favoriten, die nach Syrien gegangen sind, haben aber alle Mechanismen versagt ...

Czernohorszky: Jedes Kind, das verloren wird, ist auch für die Gesellschaft verloren. Es ist schwer, Personen aus Apathie oder Radikalisierung zurückzubekommen und so zu motivieren, dass sie etwas Positives beitragen können und sich auch wertgeschätzt fühlen. Die vielen Schulabbrecher, die den Anschluss verlieren, sind genauso eine große Herausforderung. Das ist nicht immer eine Frage von Regeln, Kontrollmechanismen oder Sanktionen.

STANDARD: Sind Wertekurse, wie Außenminister Sebastian Kurz sie vorschlägt, ein möglicher Weg?

Czernohorszky: Viele Dinge, die hier diskutiert werden, gibt es schon. Jeder, der nach Wien kommt, hat zunächst ein persönliches Gespräch und bekommt eine Willkommensmappe in die Hand, die erklärt, wie Wien funktioniert – also auch, was die Regeln sind und wo man Unterstützung bekommt. Man kann es einen Wertekontrakt nennen. Es macht Sinn zu vermitteln, wie eine fortschrittliche, auf Menschenrechten basierende Gesellschaft funktioniert. Das aber zu einem Kampfbegriff hochzustilisieren und zu vermitteln, es gebe so viele Leute, die sich weigern, so ein Angebot anzunehmen, und mit Sanktionen zu drohen, das ist ein an die Wand gemalter Kulturkampf, den es so nicht braucht.

STANDARD: Wie frei sollen Schulen in der Lehrplangestaltung sein?

Czernohorszky: Schule und Lernen müssen vom Kind ausgehend gedacht werden. Momentan ist Schule zu sehr auf Regeln konzentriert. Es geht aber um jedes Kind und um die mit ihm lernenden Lehrer. Die brauchen Unterstützung dabei. Wenn jedes Kind mitgenommen werden soll, braucht es ein großes Maß an pädagogischer Freiheit. Lehrer brauchen das Werkzeug und die Unterstützung, aber auch die Möglichkeit, dass sie auf das Kind eingehen. Wenn man das ernst nimmt, muss man mit der Autonomie leben können. Die Klasse und die Schule haben ein gewisses Maß, um Schwerpunkte zu setzen. Das ist jetzt schon möglich, aber es wäre noch viel mehr möglich. Mit der Bildungsreform wird noch viel mehr möglich sein.

STANDARD: Wie soll die Modellregion Wien konkret aussehen?

Czernohorszky: Das Ziel ist eine Modellregion der gemeinsamen Schule in ganz Wien. Dabei müssen alle mitgehen können. Wenn sich Eltern davor fürchten und es Lehrer furchtbar finden, kann es nicht funktionieren. Das ist ein langer Weg. In den nächsten Jahren werden wir das erreichen, durch viele Schulstandorte, die in Wien verteilt sind. An solchen Standorten muss es gelingen zu zeigen, wie es ist, wenn Kinder am Anfang keine Auslese aufgrund von Noten haben, aber eine starke persönliche Förderung bekommen. Ein Problem an dem jetzigen Schulsystem ist, dass mit neun Jahren eine Bildungsentscheidung getroffen werden muss, die den restlichen Bildungsweg vorgibt. Wenn es uns gelingt, das gemeinsame Lernen von der Volksschule in die Mittelstufe zu ziehen, ohne die Perspektive für die Zukunft zu verschließen, dann kann man Eltern dafür gewinnen.

STANDARD: Wird es also Cluster geben, die in Wien verteilt sind?

Czernohorszky: Es wird im Jänner die Arbeit begonnen werden. Wir werden uns dann die genauen Möglichkeiten ansehen. Die Frage der gemeinsamen Schule kann nur dadurch beantwortet werden, dass wir eine Antwort darauf geben, was in der Klasse ankommt.

STANDARD: Ihr Ziel ist eine flächendeckende Gesamtschule. Die Bildungsreform des Bundes sieht eine Deckelung bei 15 Prozent vor...

Czernohorszky: Ich sitze nicht im Parlament, darum kann ich nicht beantworten, was herauskommen wird. Jedenfalls sind 15 Prozent mehr als null Prozent. Das ist eine Tür, die aufgemacht wurde, und wir gehen durch sie durch. Klar ist, dass wir am Ende des Tages die gemeinsame Schule für ganz Wien wollen. Da werden wir noch einige Bewegung vom Bund brauchen. (Oona Kroisleitner, Petra Stuiber, 10.12.2015)