Stina Mattisson schaut durch das schmale Fenster der Schlosskapelle in Kalmar auf das Meer hinaus, um sich vor ihrem Auftritt zu entspannen. Die Ostseewellen klatschen im Takt an die wuchtigen Mauern und Türme. Stina wurde zur Lucia der südschwedischen Stadt gewählt. Sie trägt ein langes weißes Gewand, ein rotes Band um die Taille und eine Krone mit Kerzen auf dem Kopf. Gleich wird sie eine Prozession durch den Renaissancepalast der Wasa-Könige leiten und danach mit ihren "Jungfern", also Dienerinnen, Lucialieder vor einem großen Publikum im Konzertsaal singen.

Das beliebteste summt Stina vor sich hin: Santa Lucia, Natten gar tunga fjät. Es handelt von der Königin des Lichts, die das Dunkel der Welt erleuchtet. In der Adventszeit, wenn es in dem Land im Norden jeden Tag nur noch wenige Stunden hell ist, erklingt es zigtausend Mal. Die Melodie ist sehr einprägsam. Auch wer als Reisender nur einmal zum Luciafest am 13. Dezember in Schweden ist, wird das Lied nie vergessen – selbst wer den Text gar nicht versteht. "Ein tolles Gefühl", sagt Stina, "Menschen Hoffnung zu bringen, die nicht einmal wissen, was wir singen".

Der Ponyclub in Linköping veranstaltet eine eigene Lucia-Wahl mit anschließender Prozession.
Foto: Dietmar Scherf

Die Sonne versinkt im Meer. Stina betrachtet im Fenster ihr Spiegelbild. Lange glatte blonde Haare, "wie eine Wasa-Prinzessin". Das hört sie oft, aber es macht sie immer noch verlegen. "Ich fühle mich ein bisschen wie ein Star in unserer kleinen Stadt", sagt sie, "wenn die Leute mich auf der Straße sehen, bleiben sie stehen und wollen mit mir sprechen". Dabei sollte ihrer Meinung nach der Wettbewerb um die Rolle der Lucia keine Misswahl sein, "Kalmar mit einer freundlichen Art zu repräsentieren und gut zu singen, sind viel wichtigere Eigenschaften, als schön zu sein". Sie kniet auf einer Bank, damit eine Helferin die Kerzen der Luciakrone anzünden kann.

Lucia und ihre Freundinnen

Als alle Lichter leuchten, erhebt sich Stina lächelnd, faltet die Hände wie zum Gebet und schreitet stolz durch die Kapelle. Ihre sechs ebenfalls weiß gekleideten "Jungfern" folgen in einer Reihe: Moa, Amelie, Elin, Emily, Filippa und Fanny. Die anderen wollten auch Lucia werden, bekamen aber weniger Stimmen als Stina. Sie sind trotzdem ihre Freundinnen geworden. Stina hatte schon befürchtet, dass sie neidisch sein könnten, doch "davon war gar nichts zu spüren". Nun gehen sie mit ihr zu allen Lucia-Terminen.

Statt einer Krone mit Kerzen tragen sie einen Kranz grüner Zweige im Haar. Sie ziehen durch das mächtige Renaissance-Schloss, gehen durch Prunksäle, unter vergoldeten Decken, zwischen fein gemeißelten Mauern, kostbaren Wandteppichen und Thronen. Ihre Schritte hallen im hohen Gewölbe. Sie stimmen Santa Lucia an, was erst kaum vernehmbar wie ein melancholischer Ton von der Ostsee, doch bald immer deutlicher als der rührende Gesang hell klingender Stimmen zu den Konzertbesuchern dringt.

Prozession im Freilichtmuseum

In der weiter nördlich gelegenen Stadt Linköping beginnt das Luciafest bereits bei Sonnenaufgang. Dort veranstaltet der Valla Ponnyklubb eine Prozession auf Pferden durch das Freilichtmuseum Gamla Linköping. Es geht auf Kopfsteinpflaster an roten Holzhäusern, Greißlern und historischen Werkstätten vorbei. Viele der 90 Gebäude sind bewohnt, deswegen wirkt die Anlage eher wie ein lebendiger alter Stadtteil.

2014 trug Malin Skoog (Mitte) den Titel. Beim Reiten schwört sie auf ungefährliche batteriebetriebene Kerzen auf dem Kranz auf ihrem Kopf.
Foto: Dietmar Scherf

Es ist ein bitterkalter Morgen. Malin Skoog ist die Lucia des Valla Ponnyklubbs. Sie trifft sich vor der Prozession mit ihren "Jungfern" Emma Moberg und Carolina Withell im Lingens Hof, einem fast 300 Jahre alten Gutshaus. "Sehen doch wie echt aus", sagt die ebenfalls langhaarige blonde Malin und zeigt auf die batteriebetriebenen Kerzen. "Tropfende Wachskerzen auf dem Kopf sind beim Reiten undenkbar", sagt sie, "das ist ja schon bei Prozessionen zu Fuß eine heikle Sache". Die Drei tragen ihren Reithelm und binden den grünen Festkranz einfach rundherum. Dann helfen sie sich gegenseitig, ihre langen Gewänder auseinanderzufalten und anzulegen, meterlanger weißer Stoff, der noch die Hälfte des Pferderückens bedecken wird.

Die Prozession führt zum Marktplatz, wo auch sie das Lied anstimmen, das für Schweden zur Weihnachtszeit so wichtig ist wie Stille Nacht im deutschen Sprachraum: Santa Lucia. Die Zuschauer sind ergriffen und stimmen bei der zweiten Strophe mit ein. Es duftet nach Tannenzweigen, gebrannten Mandeln und Glögg, skandinavischem Glühwein. Dazu verputzen die Schweden massenweise Lussekatter, Luciakatzen. Das sind mit Safran gewürzte und mit Rosinen verzierte Hefekringel.

Buben nur als Sternsinger

In Linköping nehmen auch Buben am Festzug teil, allerdings nur als Sternsinger. Manchen Burschen ist eine solche Nebenrolle allerdings zu wenig. Im Gymnasium Sodra Latin im hippen Stockholmer Stadtteil Södermalm organisierten sie prompt die Wahl einer männlichen Lucia. Dass "biologische Buben" nur als Sternsinger – Stjärngossar – mit Zipfelmütze aus Karton oder als Lebkuchenmännchen – Pepparkaksgubbar – an den Prozessionen teilnehmen dürften, passe nicht ins moderne Schweden und sei rückständig.

Das Luciafest, wie es heute in Schweden gefeiert wird, ist eine Mischung aus verschiedenen Bräuchen. Der Name Lucia, der Charakter "gabenbringende Frau" und das Accessoire Lichterkrone stammen von der berühmten Christin, die im 3. Jahrhundert zur Zeit der Christenverfolgung in Sizilien lebte. Sie sagte ihre geplante Hochzeit ab und verteilte alles, was sie besaß, an arme Menschen. Daraufhin wurde ihr Verlobter zornig und verriet sie an die Behörden, die sie schließlich töten ließen. Von der Kirche wurde die "hoch verehrte Jungfrau" heilig gesprochen. Sie soll sich einen Kranz mit Kerzen auf den Kopf gebunden haben, um sich damit den Weg zu leuchten, als sie den Christen in ihren unterirdischen Verstecken half. Mit dieser Technik hatte sie beide Hände frei und konnte mehr Nahrungsmittel zu den Verfolgten tragen.

Die Rückkehr des Tageslichts

Am 13. Dezember wurde schon seit langem der Gedenktag an die Heilige gefeiert. Gleichzeitig lag an diesem Datum die längste Nacht, wenn man nach dem alten Julianischen Kalender geht. In Schweden war es üblich, in dieser Nacht viele Lichter anzuzünden, um die Kräfte zur Rückkehr des Tageslichts zu beschwören und sich vor Trollen und ähnlichen Fabelwesen zu schützen. Ansonsten drohten diese Kreaturen, ihr Unwesen zu treiben. Von Frauen, die am Luciatag lange weiße Kleider trugen, wurde erstmals im 18. Jahrhundert berichtet. Die erste Luciawahl fand 1927 statt und war die Idee von Zeitungsmachern in Stockholm.

Stina Mattisson wurde zur Lucia der südschwedischen Stadt Kalmar gewählt.
Foto: Dietmar Scherf

Mittlerweile wählt fast jede Schule, jedes Dorf und jede Stadt eine eigene Lucia. Wenn Schönheit tatsächlich das entscheidende Kriterium ist, wäre das die größte Misswahl der Welt. Männliche Lucias sind Randerscheinungen. Wenn es um Lucia geht, siegt die Tradition. Überwiegend bekommen genau die Mädchen die Rolle zugesprochen, die dem Klischee und Ideal einer schönen Schwedin mit langen blonden Haaren entsprechen.

In der Stadt Göteborg, im Westen des Landes, wollte man im Jahr 2013 die Wahl neutraler gestalten und sich nicht von Äußerlichkeiten blenden lassen. Allein die Stimme sollte entscheidend sein. Die Wähler bekamen keine Fotos der Kandidatinnen gezeigt, sie konnten nur Gesangsproben per Telefon abhören. Sandra Johansson gewann – sie hat lange blonde Haare. (Dietmar Scherf, 13.12.2015)