Müde und geschunden sehen sie aus. Kaum einer wandert noch leichten Schrittes, viele humpeln, es ist ihnen anzusehen, dass jeder Meter schmerzt. Rechts und links der Straße ins Stadtzentrum von Santiago de Compostela sieht man die Pilger auf der Zielgeraden. Durch das Grau der Vorstädte kämpfen sie sich bergan, vorbei an Industrieanlagen, schäbigen Mietskasernen und Bordellen. Doch in der Ferne, hinter den Häusern, zeichnet sich bereits das Ziel ihrer Träume ab – die Türme der Kathedrale am Ende des Jakobsweges.

Durch ein altes Pilgertor gelangen die Wanderer in die Altstadt und schließlich auf die Praza do Obradoiro, den großen Platz vor dem Gotteshaus. Angekommen! Freudentränen, Umarmungen, Menschen, die in sich gekehrt im Schatten sitzen. Irgendwo in der Nähe spielt jemand auf der Gaita, dem galizischen Dudelsack. Die Praza scheint aufgeladen mit Emotionen und es fällt schwer, sich dieser Stimmung zu entziehen.

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Fast 240.000 Pilger machten sich 2014 auf den Weg nach Santiago de Compostela.
Foto: Reuters/Eloy Alonso

Die Zahl der Pilger auf dem Jakobsweg ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Fast 240.000 waren es 2014. Im Jahr 2007 kamen ganz besonders viele Deutsche, Österreicher und Schweizer – zu jener Zeit also, als Hape Kerkelings Buch Ich bin dann mal weg die Bestsellerlisten erstürmte. Nun könnte die Verfilmung des Romans, die seit heute, dem 24. Dezember, in den Kinos läuft, noch einmal einen Wachstumsschub bei der Anzahl der Pilger bewirken. Überdies hat Papst Franziskus 2016 zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. Die Kirchenoberen in Santiago de Compostela öffnen deshalb die Heilige Pforte an der Ostseite der Kathedrale, obwohl das ursprünglich erst für 2021 geplant gewesen wäre. Santiago muss sich im kommenden Jahr also auf sehr viele Besucher einstellen.

800 Kilometer zum 15. Geburtstag

Ein schlankes Mädchen mit lockigem rotblondem Haar, strahlend blauen Augen und dünnen, beinahe zerbrechlich wirkenden Beinen hopst fröhlich zwischen den Menschen umher. 800 Kilometer von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich bis nach Santiago ist sie in den letzten Wochen gegangen. Muskelkater, Blasen? Anna Unterauer winkt gelassen ab: "Nach 200, 300 Kilometern tat es nicht mehr weh." Unterwegs hat sie ihren 15. Geburtstag gefeiert – zusammen mit den Pilgern Sasch, Aaron, Mizaki und May, die sie auf dem Weg kennengelernt hat und nun ihre "Camino-Familie" nennt.

Sein Buch hat dafür gesorgt, dass sich mehr deutschsprachige Pilger auf dem Weg nach Santiago gemacht haben. Heute, 24.12.2015, kommt die Verfilmung von Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg" ins Kino.
Foto: APA/dpa-Zentralbild

Annas Vater, Dragan Savic-Unterauer, sitzt ein paar Meter entfernt auf dem Pflaster und betrachtet seinen Wanderstock mit den 31 eingeritzten Ringen – einer für jeden Reisetag. Er hat die Strecke schon zum vierten Mal zurückgelegt. "Beim ersten Mal weil ich in einem tiefen Loch war und Depressionen hatte. Das Gehen hat mir im Wortsinn geholfen, wieder auf die Füße zu kommen." Der gebürtige Kroate, der in Osnabrück lebt, lächelt zufrieden: "Das Unterwegssein vermittelt ein ultimatives Gefühl von Freiheit."

Zwischen Zufriedenheit und Schock

Zu denjenigen, die in barer Münze von der Euphorie der Pilger profitieren, gehören die Besitzer der Souvenirshops. Pilgerstäbe und Plastikstatuetten vom Apostel Jakob, der der Legende nach unter der Kathedrale begraben sein soll – die Auslagen in den Geschäften sind voll davon. "Hier in der Altstadt gibt es etwa 200 Shops dieser Art", erzählt José-Manuel Bello Rey, der Vorsitzende der Händlervereinigung von Santiago. Während er ein T-Shirt auf einen Bügel hängt, auf dessen Vorderseite abgebildet ist, was der Pilger alles braucht, um wirklich "authentisch" rüberzukommen, versichert er: "Ich mag diese Arbeit. Jeder, der nach Hunderten von Kilometern ankommt, ist in dem Moment total zufrieden." Mancher allerdings muss auch erst einmal einen Schock überwinden.

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Kap Finisterre, das "Ende der Welt", rund 60 Kilometer von Santiago de Compostela, ist für viele das eigentliche Ende des Jakobswegs.
Foto: APA/EPA/LAVANDEIRA JR

Der 38-jährige Schwabe Ćedo Simić und seine Freundin Herdis Auer sind nach einer Stunde in Santiago sofort wieder aufgebrochen – weiter zum 60 Kilometer entfernte Kap Finisterre, das "Ende der Welt", an der schroffen Westküste Galiziens. Erst nach ein paar Tagen kehrten sie zurück, um dann doch noch Souvenirs zu erstehen.

"Wir waren zwei Wochen lang in der Stille, ganz im Einklang mit der Natur und dann hast du plötzlich tausende Menschen um dich herum", sagt Simić. Gemeinsam sind sie von Oviedo nach Santiago gewandert. Die beiden sehen sich kurz in die Augen und er sagt: "Nicht aus religiösen Gründen. Wir sind zusammengewachsen auf dem Weg, wir sind ans Ziel gekommen." (Katja Bülow, 24.12.2015)