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STANDARD: Analytiker und Psychiater haben vor und um Weihnachten Hochsaison. Wieso ist das so? Der Fluch der modernen Schnelllebigkeit?

Doering: Die Belastungen haben sich verändert – vor 80 Jahren waren die Zeiten sicher nicht besser. Allerdings gibt es heute viel mehr Ablenkungen, da fallen Besinnung und Innehalten schwerer. Und wenn die Seele nie nachkommen kann, man sich ständig ablenkt, ergeben sich Probleme: Wenn dann einmal Stille eintritt, kann dies Angst auslösen, weil wir plötzlich mit uns selbst konfrontiert sind. Manchmal kann dies auch zu psychischen Krisen führen.

"Man kann verstehen, dass manche Menschen fürchten, ihr Leben fliege in die Luft, wenn sie zu genau hinsehen oder zu offen mit dem Partner sprechen", sagt Analytiker Stephan Doering.
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STANDARD: So kommt es zu Punsch und Party ohne Ende ...

Doering: Feiern ist etwas Schönes, und gegen Punsch und Party ist nichts einzuwenden – wenn es allerdings ohne Ende geschieht, kann es auch dazu dienen, manches zu verdrängen. Man kann verstehen, dass manche Menschen fürchten, ihr Leben fliege in die Luft, wenn sie zu genau hinsehen oder zu offen mit dem Partner sprechen. Manchmal ist dieser Schutz stabilisierend, dennoch halte ich es auf lange Sicht für besser, sich den Baustellen im eigenen Leben immer wieder zuzuwenden – nur so kann ich etwas ändern. Wir alle tragen Unbewältigtes in uns, das ist menschlich. Darüber nachzudenken und zu sprechen ist im Nachhinein oft viel weniger belastend als das dauernde Aushalten und Verdrängen.

STANDARD: Das haben wir aber das ganze Jahr – warum die Weihnachtskrise?

Doering: Aus zwei Gründen: Zum einen spüren alle die, die in Isolation leben, dies zu Weihnachten noch viel stärker, weil alle anderen (vermeintlich) in trauter Gemeinsamkeit feiern. Zum anderen haben wohl die meisten Menschen den tiefen, oft unbewussten Wunsch, dass zu Weihnachten eine Harmonie, Geborgenheit und Liebe herrschen, die wir aus der Kindheit kennen – oder die wir nie kennengelernt haben. Dieser Wunsch soll nun von den Angehörigen erfüllt werden, was oft nicht oder nicht so wie erhofft geschieht. Wir neigen dazu, uns selbst, unsere Partner und Familien mit unerfüllbaren Wünschen zu überfordern.

STANDARD: Wir sehnen uns nach einer heilen Welt ...

Doering: ... und wollen nicht erkennen, dass es keinen Weg zurück in die Kindheit gibt – und nur selten ein Paradies auf Erden. Und nun, oft am Heiligabend, treffen diese zwei Dinge zusammen: der plötzliche Wegfall der Ablenkungen (oft bleiben doch zumindest für ein paar Stunden Fernseher, Computer und Handy aus) und die unerfüllbaren Erwartungen. Das ist eine hochexplosive Mischung.

STANDARD: Welche Haltung vermeidet den großen Knall?

Doering: Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, wenn's mal knallt. Die Weihnachtstage bieten die Chance, Dinge, die ausgesprochen und geklärt werden müssen, einmal in Ruhe gemeinsam oder auch für sich alleine anzusehen. Wenn es uns schon ein paar Tage vor dem Heiligabend gelingt, unsere Erwartungen auszutauschen und auf ein realistisches Maß zu bringen, dann kann der Weihnachtsabend doch noch schön genug werden – vielleicht gerade, weil er nicht paradiesisch sein muss.

STANDARD: Welche Fragen sind dafür an sich selbst zu richten?

Doering: Wir sollten uns selbst und den Partner, die Eltern, die Kinder fragen, wie es uns wirklich geht, miteinander, mit dem Leben. Wenn wir uns und einander ehrlich genug antworten, dann haben wir die Chance, zu erfahren, dass es den anderen ebenso geht wie uns und dass dieses Teilen von Freuden, Schmerzen, Enttäuschungen und Wünschen etwas enorm Verbindendes, Tröstendes, ja auch Beglückendes haben kann. Und am Ende kann es uns gelingen, nicht an dem zu leiden, was uns fehlt, sondern uns an dem zu erfreuen, was wir haben.

STANDARD: Stress ist zu einem Synonym für alles Schlechte geworden ...

Doering: Stress ist gut, wenn man sich mit ihm auseinandersetzt. Das ist meistens keine so einfache Übung. Ohne Auseinandersetzung und Dialog geht es nicht.

STANDARD: Ist die Schnelllebigkeit das neue Synonym für alles Übel?

Doering: Gut oder schlecht ist hier nicht die Kategorie. Das Tempo verändert die Qualität der Beziehungen. Man versäumt eher, sich auf sich und andere einzulassen. Aber andererseits bieten Vernetzung und Digitalisierung der Welt ja auch unendlich viele bereichernde Chancen. (Karin Bauer, 20.12.2015)