Die freien Opernproduzenten Nora und Michael Scheidl, zusammen sind sie die Gruppe Netzzeit, feiern 30-Jahr-Jubiläum.

Robert Newald

Wien – Es ist doch einiges zusammengekommen in den letzten 30 Jahren: Musiktheateruraufführungen und -erstaufführungen von u. a. Olga Neuwirth, Franz Koglmann, Peter Eötvös, Max Nagl, Georg Kreisler, Morton Subotnick etwa. Und genreübergreifende Großunternehmungen wie die Amazonas-Trilogie bei der Münchner Biennale, das urban-utopistische 25-Stunden-Projekt urbo kune im Wiener Konzerthaus. Oder internationale Erfolgsproduktionen wie das Symposion der Rausch in acht Abteilungen, in der Neue Musik in der Horizontalen konsumiert werden konnte und leckere Weine gleich dazu.

Ersonnen, geplant und gestemmt haben die Produktionen der Gruppe Netzzeit Michael und Nora Scheidl. Wie war's, so insgesamt? "Schön und schwierig", resümiert Michael Scheidl. Manchmal hätten sie selbst die Themen für ihre Arbeiten gefunden, manchmal seien diese an sie herangetragen worden. "Typisch für unsere Arbeiten der letzten 30 Jahre ist es, dass es 'typisch' nicht gibt: Wir sind immer vom Thema ausgegangen, und das Thema hat dann ein bestimmtes Genre oder auch eine bestimmte Genremischung gebraucht." Was das Besetzen der Partien anbelangt, beschreibt sich der Regisseur als "sehr streng": "Ich will, dass ein Schauspieler oder ein Sänger wirklich zu hundert Prozent richtig besetzt ist."

"Dann inszenier des doch du!"

Musikalisch wird seit langen Jahren mit dem Klangforum Wien kooperiert, noch steter und intensiver ist die Zusammenarbeit lediglich zwischen Nora und Michael Scheidl selbst. Ist es nicht schwierig, als Ehepartner über so lange Zeit und in so vielen Produktionen gemeinsam zu einem befriedigenden künstlerischen Ergebnis zu finden? Natürlich würden sich ab und zu "Konfliktfelder" ergeben, Sätze wie "Dann inszenier des doch du!" oder "Dann mach dir dein Bühnenbild selber!" sind den Ehepartnern erinnerlich. Aber man habe sich doch immer zusammengerauft.

Im Schatten der großen, gegenwartsscheuen Opernhäuser hat sich in Wien eine vielfältige, kreative Musiktheaterszene entwickelt. Ist das nicht eh gut so? Schon, meint Nora Scheidl, aber: "Die freie Musiktheaterszene kann nicht zur Gänze übernehmen, was die großen Opernhäuser auch zu tun hätten." Ihr Mann wagt ein Blick in die Zukunft: "So wie die Europäische Union hoffentlich einmal zu einer Union der Regionen werden wird, in der der Nationalstaat weniger wichtig ist, wird im Kunstbereich die starre Aufteilung der Genres auf große Häuser mit ihren Guckkastenbühnen ein Ablaufdatum haben – es wird nur noch eine von vielen Möglichkeiten sein." Performative Ereignisse würden vermehrt in unterschiedlichen Räumlichkeiten stattfinden, so Michael Scheidl, sei es im Besenkammerl oder in einem Fußballstadion.

Courage für ungewohnte Situationen

Was war ihm in den letzten Jahren wichtig, als Musiktheatermacher? "Wer bei uns ins Theater geht, muss neugierig sein. Wir machen nicht die Form von Theater, in der man zum hundertsten Mal sieht, dass der Kasperl dem Krokodil mit dem Prügel auf den Kopf haut. Unsere Zuschauer müssen die Courage haben, sich auf ungewohnte Situationen einzulassen."

Eine Courage, die Scheidl bei der österreichischen Bevölkerung in Bezug auf die Flüchtlinge vermisst: Fremdenfeindlichkeit sei dort am größten, wo die Leute keinen einzigen Flüchtling zu Gesicht bekommen hätten, sagt Scheidl. In der diesjährigen Netzzeit-Produktion, der satirischen Oper Whatever Works von Manuela Kerer und Arturo Fuentes, heißt es im Libretto von Dimitré Dinev: "Wir alle spenden gern, sofern die Opfer bleiben fern." "Eine Art Ablasshandel", meint Nora Scheidl.

Und so haben die beiden beschlossen, zum 30-Jahr-Jubiläum von Netzzeit keine neue Produktion zu zeigen, sondern Max Nagls Kinderoper Camilo Chamäleon zu reaktivieren und sie für Flüchtlingskinder zu spielen. Das Ganze findet im Restaurant Etap von Mehmet Kocak in Ottakring statt (zum letzten Mal am 21. 12.), zahlreiche Dolmetscher erklären den Kindern vor Beginn den Inhalt der Tierfabel, in der es um die Balance von Anpassung und Selbstbehauptung in einer unbekannten Umgebung geht. Gratulation auch für diese Initiative. (Stefan Ender, 18.12.2015)