Katharina Kakar
Frauen in Indien

Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand
C. H. Beck 2015

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Proteste am 21. Dezember in Neu-Delhi gegen die Freilassung jenes Gruppenvergewaltigers, der zum Tatzeitpunkt noch minderjährig war.

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Drei Jahre ist es her, dass eine 23-jährige Physiotherapie-Studentin nach einer brutalen Gruppenvergewaltigung in Delhi gestorben ist. Nach über Wochen anhaltenden Protesten in Indien zog und zieht das Schicksal der jungen Frau auch das Interesse der internationalen Medien auf sich wie bisher kein anderes. "Nie zuvor scheint sich Europa so sehr für das Schicksal und den Status indischer Frauen interessiert zu haben", schreibt Katharina Kakar in ihrem Buch "Frauen in Indien. Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand". Sie ortet in der Flut von Berichten, die folgten, die Tendenz, die Frauen in die Opferrolle zu drängen, "ohne kulturelle Zusammenhänge und die Vielfalt indischer Lebenswelten einzubeziehen".

Dem möchte sie mit ihrem Buch entgegenwirken, "mittels exemplarischer Ereignisse, Menschen und Themen" einen "differenzierten Blick" entwickeln. Das gelingt der Religionswissenschafterin und Anthropologin, die selbst seit vielen Jahren in Indien lebt, auf beeindruckende Weise, wenn auch die Menge der Details die Leserin bisweilen sehr fordert. Kakar beschreibt in ihren Kapiteln zu Sexualität, Lust und Ehe den Aufbruch einer neuen, urbanen Mittelschicht, die aber doch der großen Bedeutung der Familie verhaftet bleibt: Nicht die oder der Einzelne zählt, sondern die Familie, an der Status, Ehre und oft sogar das Überleben hängen.

Ehe keine Privatsache

Vor diesem Hintergrund macht sie deutlich, warum nicht nur in den ärmeren Schichten, die noch immer vier Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen, die Ehe keine Privatsache ist. Auch ein Großteil der jungen, immer öfter gut ausgebildeten Frauen in den Städten haben gegen semiarrangierte Ehen nichts einzuwenden. Während Scheidung in der Vergangenheit – selbst bei Gewalt in der Ehe – ein Tabu war, nehmen die Scheidungsraten der indischen Mittelschicht zu. Trotzdem werden in Indien kaum mehr als ein Prozent aller Ehen geschieden.

Dabei ist Indien, auch das macht die Autorin immer wieder deutlich, ein weites Feld, in dem "mindestens fünf weltgeschichtliche Zeitzonen gleichzeitig existieren": erstens jene der isoliert-abgelegenen Landstriche indischer Ureinwohner, deren Lebensumstände sich in den letzten 500 Jahren nur wenig verändert haben; zweitens das ländliche, überwiegend agrarwirtschaftliche Indien, wo sich das Leben ungefähr so abspielt wie im frühen 20. Jahrhundert; drittens die Kleinst- und Kleinstädte mit ihren lokalen Eliten, die dem europäischen Stadtleben des 19. Jahrhunderts gleichen; viertens die Metropolen mit ihrer aufstrebenden Mittelschicht; und schließlich Zeitzone fünf mit der privilegierten, globalisierten Schicht, die sich die Welt ins Haus holt oder ins In- und Ausland reist.

Mitgiftmorde

Diese Lebensräume unterscheiden sich stark voneinander, wie Kakar zeigt, interagieren aber auch. Befasse man sich mit Geschlechterfragen in Indien, solle man immer diese "Zeitzonen" präsent haben, die aber allesamt von zwei bestimmenden Faktoren durchzogen seien: Kaste und Klasse.

Die patriarchalen Strukturen der höheren Kasten seinen ebenso wie der Überlebenskampf der unteren Schichten untrennbar verbunden mit der Gewalt gegen Frauen: Diese dekliniert Kakar in den Kapiteln Macht, Gewalt, Entwertung, Vergewaltigung und Armut durch. Auffallend dabei ist, dass wie im Fall der Mitgift, die seit 1961 offiziell verboten ist, die gute Gesetzeslage nur sehr langsam etwas an den bestehenden Strukturen ändert. So werde allein in Delhi eine Frau pro Tag Opfer eines sogenannten Mitgiftmords, bei dem junge Ehefrauen von der Familie des Ehemanns ermordet werden, um sie loszuwerden und durch eine zweite Heirat des Bräutigams eine zweite Mitgift zu erhalten.

"Die Gesetzeslage zum Schutz von Frauen ist in Indien ausgezeichnet", schreibt Kakar, "die Umsetzung meist so mangelhaft, dass Frauen entweder Jahrzehnte um ihr Recht kämpfen müssen oder Täter und Täterinnen aufgrund der schlechten Beweislage nicht verurteilt werden können." Denn – auch darauf weist Kakar hin – auch Frauen übten oft Gewalt aus, wie zum Beispiel die Schwiegermütter an den ihnen völlig ausgelieferten Schwiegertöchtern, die in den Haushalt des Mannes wechseln. Zudem nehme die Polizei Anzeigen von Vergewaltigungen oder anderen Gewaltanwendungen oft erst gar nicht auf. So sei es eher die Regel als die Ausnahme, dass ein Gang zur Polizei zu nichts führe, weil die Polizisten aus der gleichen Kaste wie die Täter stammen.

Feminismus als Multiklassenbewegung

So kann es sein, dass bis heute vor allem im Norden des Landes Feldarbeiterinnen aus den ärmsten Regionen des Landes sexuell ausgebeutet und völlig rechtlos wie Sklavinnen gehalten oder konsequenzenlos ermordet werden. Es sei das Kastenwesen Indiens, das "das größte, auch in Zukunft kaum überwundbare Hindernis für den Aufstieg der Armen und die Verringerung der Gewalt gegen Frauen" sei, so Kakar. Dies, obwohl Diskriminierung aufgrund der Kaste seit 1948 gesetzlich verboten ist.

Sie warnt aber vor einem Blick, der indische Frauen nur als Opfer sieht, und geht im Kapitel Widerstand ausführlich auf diesen ein: Der "Dritte-Welt-Feminismus" biete eigene Antworten auf spezifische Probleme. Feminismus in Indien sei eine "amorphe, sporadische, themenorientierte Multiklassenbewegung". Ihr Augenmerk liegt auf den vielen mutigen Frauen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Leben in die Hand nehmen. (Tanja Paar, 23.12.2015)