Freiwillige Helfer: Sie beweisen, dass scheußliche oder traurige Umstände nicht zwangsläufig scheußliches oder trauriges menschliches Verhalten zur Folge haben müssen. "Wo alles dunkel ist, machen sie Licht. Wenn alle zweifeln, glauben sie. Was keiner anfängt, das führen sie aus."

Foto: APA / Barbara Gindl

Für den englischen Philosophen John Stuart Mill war die Sache eindeutig: Es ist besser, ein unglücklicher Mensch zu sein als ein glückliches Schwein. Besser, ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Verdammt, denken nun nicht wenige von uns, gerne hätten wir doch von beiden etwas: sokratische Schläue und närrische Glückseligkeit. Das ergäbe ein rares Amalgam. Dem Hörensagen nach entsteht es bei Erleuchtung, alle heiligen Zeiten einmal. Nachgewiesenermaßen und wiederholt hingegen dank Literatur.

König Lears weiser Hofnarr etwa, der erkannte irgendwann, vermutlich als er noch nicht Hofnarr, sondern ausschließlich sokratisch klug war, dass der Welt mit Ernsthaftigkeit nicht beizukommen ist; und Narretei um- so mehr ein Glück, je ernster die Lage. Für diese traurig-schöne, ach was: Für diese grotesk-humorvolle Weitsicht war dem Hofnarren gewiss auch Shakespeare dankbar.

Nun sind die meisten von uns aber nicht in der privilegierten Situation, erleuchtet oder Hofnarr zu sein. Wie also umgehen mit unserer Hyperinformiertheit über Krieg, Terror, Hunger, Klimakatastrophen? Wie als Mensch seine Leichtigkeit und Lebenslust nicht verlieren angesichts der live und life erlebten Schicksalsschläge und Ungerechtigkeiten?

Das weggebeamte Böse

Verdrängen. Das ist für gewöhnlich der erste Reflex. Geradezu enthusiastisch unterstützt uns dabei samt ihrem Güter- und Serviceangebot die Wirtschaft. Sie strapaziert unsere Laune nicht nur, will's auch wieder gutmachen. Mitunter ist das gar nicht einfach. Muss sie deshalb immer lauter und brachialer werden, unsere spaßige Unterhaltung, um das Böse der Welt zu übertönen, um uns auch garantiert wegzubeamen für ein paar selbstvergessene Glücksmomente?

Ein weithin beliebtes Elixier zur Verdrängung, aber auch zur kurzweiligen Glücks- und Erkenntnisfindung, pries schon Homer: Alkohol. Er ist, sagte er sinngemäß, die Lösung aller Probleme – und deren Ursache. Homer Simpson übrigens, nicht der altgriechische Dichter Homer, Schöpfer von Ilias und Odyssee.

Verdrängen plus ein wenig Engagement. Das ist nicht bloß ein Reflex, sondern beinahe schon eine Taktik zu nennen. Denn welcher Mensch, der sich in den Spiegel schauen möchte, schafft es schon auf Dauer, bloß wie unbeteiligt zuzusehen dem Wahnsinn der Welt (der tagtäglich auch von uns genährt wird, mehr oder weniger, was wir allerdings angenehm selten bemerken, denn glücklicherweise sind die anderen niemals wir. Und keine Sorge, dabei belassen wir es auch in diesem Text). Es verlangt uns mitunter danach, dem Aberwitz von Alltag und Welt etwas entgegenzusetzen. Eine Spende hie und da tut schon not, durchaus zweckdienlich ist die eine oder andere Mitmenschlichkeit. Dumm nur, dass die eigene Mutter-Teresa-Kraft erfahrungsgemäß ein jähes Ablaufdatum hat – und sich die Wirklichkeit von Symbolismus allein nicht sonderlich beeindruckt zeigt.

Buchstäblich mir nichts, dir nichts ist die uns schiefgeratene Welt also nicht geradezurücken. Virtuell aber sind spektakuläre Erfolge möglich. So kommt es, dass im täglichen Leben viele zwar längst auf taub und offline gestellt haben, online aber durchaus mitmachen beim Weltverbessern – Konservative wie Alternative, Rechte wie Linke, jeder nach seiner Fasson und Wortschatzvorliebe, Blogs und Facebook sei Dank. Das Phänomen hat Macht. Es bewirkt, dass heute alle, ja selbst die Bösen, zu den Guten gehören wollen. Umso mehr, seit man davon via Mausklick so zuverlässig erfährt, landauf, landab.

Limit an Gleichgültigkeit

Tatsächlich scheint beinahe jeder in der sogenannten zivilisierten Welt zumindest den Wunsch, den ehrlichen Wunsch zu haben, wenn schon nicht die Schneid und Ausdauer, zur Besserung der Zustände beizutragen. Es ist, als hätten wir alle miteinander (auch die bösen anderen) erkannt, dass es nun wirklich reicht, dass das ertragbare Limit an Gleichgültigkeit gegenüber unserem Planeten und zwischen uns untereinander überschritten ist.

Früher konnten und durften wir womöglich noch die Augen verschließen. Doch seit die Welt zum Dorf geworden ist, nicht mehr. Wer weiß, ist gezwungen zu handeln. Eine Maxime, wie geschaffen für unsere Zeit.

Vor gut 2000 Jahren hatte man es da noch einfacher, Herrgott ja, da konnte man noch Karriere machen, wenn man sich aus der Welt nahm. Eremiten: Sie galten als weise, Ratsuchende pilgerten zu ihnen in die Eremitage, in eine Höhle, ein Fass. Oder Säulenheilige: hockten in drei oder noch mehr Metern Höhe auf den Kapitellen ihrer Säulen und schauten buchstäblich von oben herab dem Leben zu, wiegten nachdenklich ihre Köpfe, schüttelten sie zuweilen ob des allzu menschlichen Schauspiels, das da unten in Dreck und Staub vor sich ging. Meist waren es Mönche, und dank ihrer erbaulich hohen Stellung dem Leben und jeder Verantwortung entrückt. Bei Wind und Wetter und sengender Sonne lebte es sich auf so einer Säulen¬ober¬fläche gewiss nicht wie im Penthouse, aber fern der Erde und nahe dem Himmel ließ es sich – und das war ja die Intention – wortwörtlich gelassen, also in Ruhe gelassen, gottgefällig weise und heiter sein: jeder irdischen Schwäche enthoben und unbehelligt von den Niederungen des Menschseins.

Wer sich's einrichten kann, nimmt Reißaus

Was vor hunderten von Jahren vorwiegend bei Geistlichen in Kleinasien trendy war, ist es nun bei uns Weltlichen: Viele, die sich's einrichten können, nehmen Reißaus. (Manche nur übers Wochenende per Sport-Utility- Vehicle.) Wenden sich ab von der Hektik der Welt, pfeifen, kurzweilig oder nachhaltig, auf die Segnungen der Moderne, steigen aus, ziehen aufs Land, hinter die sieben Berge, melden ihre Flatscreens ab, die ganz Verwegenen sogar ihre smarten Phones, sind Flüchtlinge vor der großen Wirklichkeit und gründen sich ihre eigene kleine. Auch eine Möglichkeit.

Die großen Helden unserer Zeit aber sind andere. Jene Menschen, die nicht minder den Weltschmerz (©Jean Paul) spüren und ihn auch nicht minder verfluchen. Die sich aber entschlossen haben – oder gar nicht anders können, als – sich ungeschützt und immer wieder gegen ihn zu stellen. Sie machen im Kleinen gut, was im Großen kaputtgemacht wurde: Flüchtlingen helfen sie, nach wie vor. Helfen hilft allen, sagen sie. Gegen Ungerechtigkeiten stehen sie auf, eine Selbstverständlichkeit ist es ihnen. Griesgrämische Nörgler bringen sie mit einem freundlichen Schmunzeln dazu, unversehens aus ihrem isolierten Grau zu plumpsen, und sei es nur für einen Augenblick. Für Demokratie und Freiheit engagieren sie sich, dem Terror zum Trotz. Ernsthaft sind sie, doch nicht allzu ernst, sie wissen, das wäre lächerlich. Es sind jene unter uns, die die Legende vom Menschsein wahr werden lassen, vom gleichsam vernünftigen, empathischen und humorbegabten Wesen.

Sie beweisen, dass scheußliche oder traurige Umstände nicht zwangsläufig scheußliches oder trauriges menschliches Verhalten zur Folge haben müssen. Oder wie der deutsche Theologe Lothar Zenetti sinngemäß schrieb: "Wo alles dunkel ist, machen sie Licht. Wenn alle zweifeln, glauben sie. Was keiner anfängt, das führen sie aus." Im Waldviertel freilich sagt es der Volksmund prosaischer: Wo eine Mauer ist, da ist ein Weg.

Dass hinter jener Mauer noch und noch und noch eine Mauer wartet und der Weg stets aufs Neue aussichtslos erscheint, ist ihnen, den Helden und sokratisch weisen Narren unserer Zeit, nur einen Lacher wert. Sie machen, was gemacht werden muss, weil sie Lust dazu haben, tun es, weil dabei viel herausspringt: Sinn und Freude. Damit verändern sie womöglich nicht immer die große Zukunft, doch gewiss die Gegenwart. Was kann es Größeres geben dieser Tage? (Thomas Sautner, 24.12.2015)