Marie Bonaparte fotografiert in Freuds Arbeitszimmer, Wien 1937.

Foto: Sigmund Freud Privatstiftung

Monika Pessler ist Kunsthistorikerin und seit 2014 Direktorin des Sigmund-Freud-Museums.

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Daniela Finzi ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Museum Wien.

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STANDARD: Sie stellen in der Ausstellung im Wiener Sigmund-Freud-Museum sechs Psychoanalytikerinnen vor: Emma Eckstein, Sabina Spielrein, Lou Andreas-Salomé, Helene Deutsch, Marie Bonaparte und Anna Freud. Warum fiel die Wahl gerade auf diese sechs?

Monika Pessler: Alle diese Frauen haben auf ganz unterschiedlichen Gebieten das Werk Freuds befördert. Es war uns wichtig, das theoretische Werk dieser Protagonistinnen in den Vordergrund zu stellen, um so ihre Wirkungsmacht und Einflüsse auf die Entwicklung der Psychoanalyse darzustellen. Zudem sind es Frauen, die hier in der Berggasse ein- und ausgegangen sind – als Kolleginnen, Patientinnen oder Freundinnen von Sigmund Freud und Anna Freud.

Daniela Finzi: Die Frage nach der Auswahl der Frauen ist ganz zentral, weil so viele Frauen in der Frühphase der Psychoanalyse wichtig waren. Wegen des doch sehr begrenzten Raums in der Berggasse mussten wir uns für bestimmte Kriterien entscheiden. Alle diese Frauen haben in Wien gewirkt, alle außer Lou Andreas-Salomé sind als Patientinnen oder im Zuge einer Lehranalyse zur Psychoanalyse gekommen. Das zeigt sehr gut das emanzipatorische Potenzial der Psychoanalyse, und Frauen hatten hier als Pionierinnen den Männern einiges voraus, die meist als Mediziner mit der Psychoanalyse in Berührung kamen.

STANDARD: Einige dieser Frauen, Marie Bonaparte oder Sabina Spielrein, verfügen heute über einen hohen Bekanntheitsgrad. Müssen sie überhaupt noch vorgestellt werden?

Finzi: Wenn man Freud und die Psychoanalyse kennt, kennt man auch diese Frauen. Aber: Emma Eckstein kennt man als seine Patientin, Sabina Spielrein als Geliebte, Marie Bonaparte als Fluchthelferin, Anna als Tochter oder Lou Andreas-Salomé als Muse. Wir haben versucht, sie in ihrem eigenständigen Schaffen zu zeigen und ein Stück Mythos zu dekonstruieren. Diese Frauen zeichneten sich durch ein reichhaltiges Berufsleben aus und hinterlassen ein umfangreiches Werk.

STANDARD: Sie sprachen vom emanzipatorischen Potenzial der Psychoanalyse. Trotzdem begegnete insbesondere die zweite Frauenbewegung der Psychoanalyse sehr skeptisch. Zu Recht?

Pessler: Freud begegnete als Wissenschafter und Arzt Frauen auf Augenhöhe. Nehmen wir etwa einen Brief Freuds an die Analytikerin Sabina Spielrein, den wir in der Ausstellung zeigen. Spielrein hielt schon mit 26 Jahren in der sogenannten Mittwochsgesellschaft der Psychoanalytischen Vereinigung einen Vortrag, in der sie auch jüngstes Mitglied war. In dem Brief spiegelt sich deutlich die Wertschätzung Freuds gegenüber Spielrein als Kollegin. Sie wurde zuletzt vor allem durch den Film "Eine dunkle Begierde" aus dem Jahr 2011 und somit durch die Tatsache bekannt, mit dem Psychiater C. G. Jung ein Verhältnis gehabt zu haben. Sie hat aber darüber hinaus wichtige Theorieansätze von Freud wie den Todes- und Liebestrieb vorweggenommen und war für Jung eine wichtige inhaltliche Partnerin bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

STANDARD: Welche wissenschaftliche Arbeit dieser Frauen war am nachhaltigsten?

Finzi: Sabina Spielrein hat den Todestrieb von Freud vorweggenommen. Sie hat auch viel zum kindlichen Spracherwerb und kindlichem Autismus gearbeitet. Diese Arbeiten wurden jetzt wiederentdeckt und aufgegriffen – auch in der Psychiatrie. Die Schriften von Marie Bonaparte oder Helene Deutsch finden wegen ihres biologistischen und essenzialistischen Verständnisses von Geschlecht oder Frausein heute keine Anschlussmöglichkeiten mehr. Das mildert aber nicht ihre Arbeit und ihre Einschreibung in den Diskurs, den man im Kontext der Zeit sehen muss.

STANDARD: Wie kam es zu dem Spannungsverhältnis zwischen Feminismus und Psychoanalyse, das in der Ausstellung immer wieder thematisiert wird?

Finzi: Sexualität spielt in der Psychoanalyse eine zentrale Rolle. Das ist der Grund, warum die Schriften von Freud noch immer als analytische Werkzeuge eingesetzt werden. Die Texte, in denen er sich konkret mit der weiblichen Sexualität auseinandersetzt oder den Kastrationskomplex und Penisneid entwickelte, sind tatsächlich nur sehr begrenzt für eine feministische Lesart nutzbar. Auf der anderen Seite denkt die Psychoanalyse die Widersprüchlichkeiten des Sexual- und Seelenlebens zusammen – und das ist ein ganz wichtiger Allianzpartner für feministische Studien.

In dem komplexen Verhältnis zwischen Feminismus und Psychoanalyse spielten auch ganz andere Faktoren eine Rolle: In der englischen Gesamtausgabe der Schriften Freuds wurde etwa der Begriff des Triebes, der bei Freud ein Grenzbegriff zwischen dem Körperlichen und dem Psychischen ist, mit "Instinct" übersetzt. Dadurch gab es eine biologistische Färbung. Es wurden also auch Rezeptions- und Übersetzungsprobleme virulent. In der neuen Übersetzung wurde "Trieb" übrigens mit "Drive" übersetzt, was dem deutschen Begriff viel näher kommt.

Pessler: Interessant sind auch jene Stellen, in denen Freud über den Coitus interruptus schreibt, den er ablehnt und als sehr ungesund einstuft. Dabei hatte er nicht nur den Mann im Auge. Der Coitus interruptus sei ebenso für die Frau von psychischem Nachteil, besonders dann, wenn diese zuvor keinen Orgasmus hatte. In diesen Überlegungen wird klar, dass für Freud Gleichberechtigung im Lust empfinden eine Selbstverständlichkeit war.

STANDARD: Die Psychoanalyse wurde und wird für ihren Umgang mit Homosexualität kritisiert. Warum war die Psychoanalyse hier weniger progressiv?

Finzi: Freud selbst war bezüglich Homosexualität sehr offen, es war für ihn nie etwas Pathologisches, sondern eine Objektwahl wie jede andere. Interessant ist die historische Entwicklung. Seine Tochter Anna hat selbst mit einer Frau zusammengelebt, mit Dorothy Tiffany Burlingham. Anna Freud hat sich aber betreffend die Ausbildung von Psychoanalytikern dafür eingesetzt, dass homosexuelle Analytiker und Analytikerinnen nicht andere Kandidaten innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausbilden dürfen. Als homosexueller Analytiker war man lange in einer sehr schwierigen Situation: Thematisierte man die eigene Homosexualität, riskierte man den Ausschluss aus der Vereinigung.

Pessler: Freud hatte Ende der 1920er-Jahre eine homosexuelle Patientin, die von ihren Eltern zu ihm geschickt wurde, um "geheilt" zu werden. Freud stellte fest, dass diese Patientin mit ihrer Homosexualität kein Problem hatte und meinte, dass eventuell ihre Eltern eher eine Therapie benötigen.

STANDARD: Sie fokussierten auf Frauen, die als Patientinnen Zugang zur Psychoanalyse bekamen. Das bedeutet aber, dass nur eine Gruppe von äußerst wohlhabenden Frauen mit diesem neuen Instrument in Berührung kam. Ist das ein Problem für das Instrument Psychoanalyse?

Pessler: Man kann die Situation der Frauen aus dieser Zeit sicher nicht mit jener von hochprivilegierten Töchtern aus reichem Haus vergleichen. Aber man muss auch betonen, dass es solcher Frauen bedurfte, die sich für weniger Privilegierte einsetzten. Emma Eckstein und Helene Deutsch etwa haben sich für Sexualerziehung von jungen Frauen eingesetzt und waren sozial-politisch stark engagiert. Oder Lou Andreas-Salomé, die sich noch heute als Role Modell eignet: Sie nahm mit unglaublicher Selbstverständlichkeit am philosophischen und kulturwissenschaftlichen Austausch teil und suchte sich völlig selbstbestimmt aus, mit wem sie ihre Sexualität ausleben wollte. Solche Frauen brauchen wir, damals wie heute.

STANDARD: Hatten die Ideen der Psychoanalyse womöglich nur deshalb Erfolg, weil sie in einer Zeit des generellen intellektuellen und kulturellen Aufbruchs aufkamen?

Finzi: Wir wollten die Entstehung der Psychoanalyse in den soziokulturellen Kontext einbauen. So zeigt sich, dass etwa die Frauenbewegung der Psychoanalyse vorausgeht, die beiden Entwicklungen liefen aber ebenso parallel, und auch Verschränkungen durch die verschiedenen Protagonistinnen gab es. Deshalb könnte man fragen, inwieweit die Psychoanalyse vielleicht auch eine Reaktion auf die Frauenbewegung war. Wenn wir an die Wiener Moderne denken, dann denken wir an künstlerische, literarische Erkundungen und an die Auflösung des Subjekts, an das Ich, das sich zersetzt und nicht mehr Herr seiner selbst ist. Aber es war damals immer ein männlich gedachtes Subjekt. Doch gleichzeitig betrat die Frau die Bühne des öffentlichen und des politischen Lebens. (Beate Hausbichler, 5.1.2016)