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Der niederländische Premier Mark Rutte (li.) bei EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel. Im Jänner übernimmt sein Land den Ratsvorsitz.

Foto: APA / EPA / Oliver Hoslet

Was werden im nächsten Arbeitsjahr die wichtigsten Themen der Union sein? Ein Vertreter der niederländischen Regierung zögert im Gespräch mit dem STANDARD nicht eine Sekunde: "Flüchtlinge, Migration ganz generell, und die Sicherheit; die Gefahr des Terrorismus vor allem und die Sicherung der EU-Außengrenze."

Sein Land übernimmt am 1. Jänner von Luxemburg turnusmäßig den EU-Vorsitz auf Ebene des Rates. Dem Ministerteam rund um den liberalen Premier Mark Rutte wird es obliegen, in den nächsten sechs Monaten die politische Agenda zu bestimmen, alle gemeinschaftlichen Treffen zu organisieren, die Zielsetzungen von Rat, Kommission und Parlament in Beschlüsse zu gießen.

Ausnahme: Für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (ESVP) ist die Hohe Vertreterin zuständig, derzeit Federica Mogherini, die die EU-Position für die Syrien-Verhandlungen ebenso verantwortet wie den Friedensprozess für die Ukraine oder die Beziehungen zur Türkei. Daneben gibt es noch jene (heiklen) Themen, die einflussreiche Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien an sich gezogen haben, auf zwischenstaatlicher Ebene: Die Aufteilung der Flüchtlinge in einer "Koalition der Willigen" (unter Führung von Kanzler Werner Faymann) gehört ebenso dazu wie die Vertiefung der Währungsunion (WWU) und – neuerdings – eine Spezialbehandlung der Briten im Rahmen einer künftigen Vertragsreform.

"Gute Verbindungen zwischen den Staaten herstellen"

Daneben bleibt die Kommission als "Hüterin der Verträge" und der Gemeinschaftlichkeit: Das Team von Jean-Claude Juncker muss die Vorschläge und Konzepte liefern, zur Vollendung der Bankenunion ebenso wie jüngst zur Schaffung eines eigenen EU-Grenzschutzes und einer Küstenwache. Bis Ende des Jahres soll Handelskommissarin Cecilia Malmström die Verhandlungen mit den USA über ein Freihandels- und Investitionsabkommen (TTIP) zum Abschluss bringen, so wie es die Staats- und Regierungschefs forderten. Man sieht also auf einen Blick: Die EU wird in ihrer Lösungs- und Entscheidungskompetenz auch im Jahr 2016 äußerst komplex bleiben. Kein Wunder, wenn die Regierung in Den Haag für sich als erste Aufgabe sieht: "Wir sind dazu da, gute Verbindungen zwischen den Staaten herzustellen."

Als eines der drei Beneluxländer neben Luxemburg und Belgien und als Gründungsmitglied der EU zählen die Niederlande zu jenen Kräften, die auf maximale Integration abzielen. Seit Rechtspopulisten wie Geert Wilders von der Freiheitspartei so erfolgreich sind, ist diese proeuropäische Tradition zwar gebremst. Aber Rutte will sich ungeachtet dessen als "Kerneuropäer" präsentieren, wie er beim letzten EU-Vorgipfel zum Thema Flüchtlinge erkennen ließ.

Bereits Ende Jänner soll das Erste von sechs Treffen der Innen- und Justizminister im Semester stattfinden (eine hohe Zahl). Mitte Februar wird es erneut einen Migrationsgipfel der Willigen auf höchster Ebene geben. Und bis Ende Juni soll der neue EU-Grenzschutz stehen: fix und fertig ausverhandelt auch mit dem EU-Parlament.

Kompromiss um jeden Preis

Das wäre beinahe Rekord für ein großes EU-Vorhaben. Aber bei diesem Thema gibt es – angefeuert durch die Attentate von Paris und jüngste Warnungen der österreichischen Polizei vor Anschlägen in mehreren europäischen Hauptstädten durch IS-Kommandos – kaum Limits. Sogar der als knausrig verschriene deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble kündigte an, dass sein Land "viel mehr" in die Versorgung von Flüchtlingen investieren müsse. Er schlug vor, dass die unwilligen Osteuropäer vergleichsweise weniger Flüchtlinge aufnehmen sollten, dafür Geld erhalten würden – ein ungewöhnlicher asymmetrischer Kompromiss.

Aber anders, so heißt es in der Regierung in Wien, werde man wohl nicht zu Annäherungen, gar Lösungen kommen. Ähnliches gilt wohl auch für die Gespräche mit London: Es lebe 2016 der Kompromiss, die kleine bescheidene Lösung. (Thomas Mayer aus Brüssel, 28.12.2015)