Wirtschaftswachstum wird in den hochentwickelten Industriestaaten zunehmend infrage gestellt. An der Spitze dieser Bewegung stehen Umweltschützer. Sie sehen im Nullwachstum den einzigen Weg zu einer nachhaltigen umweltfreundlichen Wirtschaft. Moralapostel prangern den Konsumterror an und predigen Maßhalten. Philosophen, denen die Felle mit der Ökonomisierung des Lebens davonschwimmen, schließen sich dieser Kritik bereitwillig an.

Die Skeptiker denken bei Wachstum nicht an Innovation – nicht an qualitativ hochwertige Bioprodukte, lebensrettende Handys, geräumige Wohnungen und Reisen in ferne Länder, sondern an das benzinfressende Zweitauto und den neuen Einkaufstempel.

Felix Butschek nimmt die wachstumsfeindliche Einstellung in seinem neuen Buch Wirtschaftswachstum – eine Bedrohung? aufs Korn. Er argumentiert, dass der Begriff Wachstum in Europa mehr als in anderen Weltregionen in Verruf geraten sei und zur kümmerlichen Wirtschaftsentwicklung in der EU beigetragen habe.

Wozu brauchen wir noch Wachstum? Wir brauchen es vor allem aus zwei Gründen:

  • um die Arbeitslosigkeit in Grenzen zu halten und
  • um den Sozialstaat zu bewahren.

Im letzten Jahrzehnt haben wir in Europa unfreiwillig Erfahrung mit Stagnation gemacht. Im Gefolge der Finanzkrise ist die Wirtschaft zwischen 2007 und 2013 nicht gewachsen. Auswirkungen auf Arbeitslosigkeit und Staatsschulden waren unübersehbar.

Die Arbeitslosenquote ist im Euroraum zwischen 2007 und 2013 von 7½ Prozent auf zwölf Prozent gestiegen. Das hat nicht nur viel Leid und Armut gebracht, sondern auch den Ruf nach Arbeitsmarktreformen verstärkt: Der Kündigungsschutz soll abgebaut, und die Lohnnebenkosten sollen gesenkt werden.

Gleichzeitig stieg die Sozialausgabenquote im Euroraum in dieser Periode um drei Prozentpunkte. Für die Gegner des Sozialstaats ist das ein willkommener Anlass, sogenannte "Strukturreformen" zu fordern, d. h. im Klartext Kürzungen von Sozialleistungen. Da die Bevölkerung im Durchschnitt immer älter wird, steigen aber gleichzeitig die Ansprüche an das Pensions-, Gesundheits- und Pflegesystem. Ohne Wirtschaftswachstum werden wir deshalb unser System der sozialen Sicherung nicht aufrechterhalten können.

Eine Verhinderung von Wachstum aus Umweltgründen müsste überdies auf Weltebene stattfinden. Wenn wir Ressourcen und Wachstumsmöglichkeiten für die unter Armut leidenden Entwicklungsländer reservieren wollen, dann würde das eine kontinuierliche Einschränkung der Produktion in Europa bedeuten.

Nullwachstum wirkt sich äußerst negativ auf die öffentlichen Finanzen aus. Nicht nur zusätzliche Arbeitslose, sondern auch notleidende Betriebe (z. B. Banken) brauchen staatliche Mittel. Die Staatsschuldenquote ist deshalb im Euroraum von 2007 bis 2013 von 66 Prozent auf 94 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Höhe geschnellt.

Umweltprobleme direkt lösen

Nachhaltiges Wirtschaftswachstum wird deshalb auf absehbare Zeit unerlässlich bleiben, um den Sozialstaat zu finanzieren und die Staatsschuldenquote zu stabilisieren. Umweltprobleme sollten direkt durch strikte Regulierungen, CO2-Steuern und Steigerung der Energieeffizienz angegangen werden. Globalisierung, Neoliberalismus und Sparpolitik machen es schwer genug, den Sozialstaat aufrechtzuerhalten. Eine wachstumsfeindliche Politik würde ihm den Garaus machen.

Larry Summers, ökonomischer Berater vieler US-Regierungen, bringt das Problem auf den Punkt: Das Wirtschaftswachstum ist wichtiger als das Budget: Ein kleiner Anstieg würde schon genügen, um die gesamte langfristige Budgetlücke ausgleichen.

In der EU ist ein ausgeglichenes Budget das weitaus wichtigste wirtschaftspolitische Ziel. Ein Budgetdefizit führt zu einem Strafverfahren ("excessive deficit procedure"), während eine Arbeitslosenquote von 25 Prozent ohne Sanktionsdrohungen hingenommen wird. Der Grund liegt eindeutig auf der politischen Ebene: Deutschland, Österreich und die nordischen Länder wollen keinesfalls für die Budgetdefizite Südeuropas herhalten müssen. Die Europäische Union dürfe nur ja keine Transferunion werden.

Defizite für Infrastruktur

Wenn Unternehmen investieren, nehmen sie dafür Kredite auf. Wenn junge Familien in eine neue Wohnung investieren, nehmen sie Darlehen auf. Warum soll eigentlich der Staat kein Defizit machen, wenn er in die Infrastruktur und in die Zukunft investiert? Budgetdefizite im Ausmaß der öffentlichen Investitionen sind sinnvoll.

Der Euroraum ist zum wirtschaftlichen Nachzügler geworden, es wird hier weniger investiert als vor der Finanzkrise. Das wichtigste Instrument zur Ankurbelung des Wachstums ist die Förderung der Investitionstätigkeit. Die wiederholte Verringerung der Unternehmenssteuern hat die Investitionsschwäche im Euroraum nicht verhindern können.

Innerhalb des wirtschaftlich kränkelnden Euroraums hat sich Österreich seit der Finanzkrise fast so günstig entwickelt wie Deutschland. Die Industrieproduktion hat im gleichen Tempo wie in Deutschland zugelegt. Nur in den letzten zwei Jahren ist die österreichische Wirtschaft hinter jener des Euroraums zurückgeblieben. Die Stimmung hat sich übermäßig verschlechtert, der Flüchtlingszustrom hat die Lage noch verschärft. Eine wachstumsorientierte Politik ist deshalb in Österreich mehr denn je gefragt. (Ewald Walterskirchen, 30.12.2015)