Moderatorin und Autorin Sarah Kuttner

Foto: Erik Weiss

Wien – Unlängst war hier von Charlotte Roches drittem Lust/Frust-Roman Mädchen für alles zu lesen. Mit Sarah Kuttner hat am letzten Tag des alten Jahres nun eine weitere Profiplauderin mit (Musik-) Fernsehkarriere Belletristisches auf den Fanmarkt gebracht. Alle anderen dürfen das getrost übersehen, aber: Mängelexemplar (2009) und Wachstumsschmerz (2011) waren Bestseller – und so einer wird in dieser Trilogie des, nun ja, Erwachsenwerdens wohl auch 180° Meer.

Das Konzept der defizitären Persönlichkeit schreibt die bald 37-Jährige darin fort. Und hat noch mehr mit Roche gemein: Auch ihre Protagonistin lebt ein (im Grunde) versorgtes, stumpfsinniges Leben. Sie ist ambitionslos und sieht keinen Sinn in dem, was sie (nicht) tut, sucht darin aber auch keinen. Auch sie kifft gern mal, ist sexuell speziell und gibt ihren, eh klar, Eltern die Schuld an der Misere. Bloß besteht für Kuttners (Anti-) Heldin noch Hoffnung. Ein Bildungsroman, sozusagen.

Besser spät als nie. Jule ist Anfang 30 und lebt, no na net, in Berlin, wo sie sich in einem Restaurant emotional eher unbeteiligt bis weltwütend als Sängerin und "Bläserin" verdingt. Freund Tim will im Gegensatz zu diesem kaputten Mädchen immer alles in Ordnung bringen, alle losen Enden, metaphorische wie tatsächliche, zu sauberen Schleifen binden. Am liebsten verkriecht Jule sich in seiner Achselhöhle. Die depressive Mutter am Telefon, die sie in ihrer Kindheit emotional missbraucht hat, soll ruhig läuten.

"Reinballern" als Prinzip

Dann geht die Erstarrtheit in die Brüche. Vor sich weglaufend kommt sie an der (schön tristen!) britischen Südküste beim gehassten Vater an – und bei sich selbst. Am Weg dorthin liegen London, Bruder Jakob, Hund Bruno und ein Altersheim. "Wir hatten erst an unseren Oberflächen gekratzt und uns bereits dabei schon ordentliche Schürfwunden zugefügt", sinniert Jule über den inzwischen krebskranken (dramaturgischer Holzhammer!) alten Herrn. So wirklich unter die Oberfläche kommt aber auch Kuttner als Autorin nicht. Da fehlt etwa die Lust am Ausgestalten. Oder ein wirklich tragender Spannungsbogen.

Reinpacken ("reinballern") ist stattdessen ihr Rezept gegen den ausgelutschten Geschmack der Story, die man sicher schon von irgendwoher kennt. Kuttner plappert, wie Roche, gern. Hat sie so gelernt beim Fernsehen. Problem aber: Was dort locker-flockig hinhaut, besonders solange der Interviewte was zu sagen hat, muss hier ohne zweite Stimme auskommen. Die Ich-Perspektive der Erzählerin ist die einzige. Und das ist gefährlich, weil es so einfach scheint: flapsig und emotional kann man da sein, subjektiv, einseitig, unausgegoren, nah. All das ist 180° Meer.

In die Schreibstube geblickt

Dazu passend hält Kuttner nicht viel davon "an der Sprache zu basteln" und hat für das Buch auch nicht viel recherchiert, denn "vieles ist ja auch logisch", wie sie sich in einem Interview mit der Welt in die Schreibstube blicken ließ. Bloß führt "logisch" hier gern zu recht einfach gestrickt. Soll das Geplapper aber vielleicht nicht inhaltliche Leerpassagen übertönen, sondern die Leere der Figur demonstrieren? Hat Kuttner die Not zur Tugend gemacht? Mit unnötigen und daher gelöschten iPhone-Apps, Billigfliegern, Dosenessen und und und gar eine dystope Checklist des Lebens einer Generation erstellt? Hipp, aber prekär! Sozialrelevanz: check?

Ein paar Macken machen die Ich-will-die-Erwartungen-der-Welt-an-mich-nicht-erfüllen!-Attitüdierende ja wohl liebenswert. Und die Geschichte ganz gemütlich. Aber es bleibt langweilig. Abseits seiner Dekoration fehlt dem Text der Mut. Und hier enden die Parallelen zur Ex-MTV-Konkurrentin. Die haut nämlich drauf und hat dabei irgendwo mittendrin noch ein paar erstaunlich gesellschaftsrelevante Ansätze versteckt. Die freut sich schreibend über jeden Bruch mit den Konventionen des "guten" Geschmacks.

Kuschelrock-Buch

Statt radikal ist 180° Meer bittersüß romantisch. Ein Kuschelrock-Buch: "Ja, das Leben ist schwer, aber es ist auch schön, Mädels!", so könnte man es anmoderieren. Konventionell bedient es Käuferinnen zwischen Bravo Girl und Psychoratgeber: So richtig schlecht geht's mir eh nicht, aber schlecht genug – wenn ich nur will! Zum Trost für jene, denen es tatsächlich schlechter geht, gibt's im Sinne des Kuttner so wichtigen Realismus ein Happy End light. Aus dem anfänglichen Trotz wird weniger Trotz. Nicht alles wird gut, manches nur egal. Couch, Wollstrickdecke und eine Tasse Tee – so kann der Winterregen gern an unsere Fenster weinen.

"Ich hab ja auch nie gesagt, dass meine Bücher Literatur sind", verriet Kuttner noch in ihrer Welt-Literaturbeichte. Warum ihr Buch trotzdem auf diesen Seiten auftaucht? Weil es sich verkaufen wird. Und Artikel darüber wie blöde angeklickt werden. Auch das sagt was über Kultur aus. Über Befindlichkeiten und Bedürftigkeiten. (Michael Wurmitzer, 1.1.2016)