"China ist kein totalitärer Staat", sagt der Sinologe Christian Göbel.

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Schule der Roten Armee in Sichuan. Weniger Frontalunterricht könnte die Innovationsfähigkeit verbessern.

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STANDARD: Wie schwierig ist es für China, zu einer modernen Wirtschaftsmacht zu werden?

Göbel: Das kann man gut am Wirtschaftswachstum der Volksrepublik ablesen. Bis 2008 gab es zweistelliges Wachstum, 2014 wurden 7,7 Prozent als Normalwert ausgegeben, und heute korrigiert man die Rate stark nach unten. Die Rücknahme der Prognosen hat direkt damit zu tun, dass China versucht, weniger Werkbank der Welt zu sein und mehr mit eigenen Mitteln für den Binnenmarkt zu produzieren. Das gestaltet sich schwierig, weil das gesamte chinesische Modell lange Zeit eben auf diesem Werkbankprinzip beruht hat. Weil der Faktor Arbeit lange günstig war und Wanderarbeiter gegenüber anderen wenig verdient haben, ist die Schere zwischen Arm und Reich in China weit auseinandergegangen. Das hat dazu geführt, dass eine große Schicht der Bevölkerung nur sehr wenig Konsumkraft hat.

STANDARD: Was bedeutet das für die chinesischen Unternehmen?

Göbel: Unternehmen werden innovativ, wenn es Nachfrage nach Qualitätsprodukten gibt. Dann wird in Forschung und Entwicklung von Produkten investiert, die "Lead User" kaufen. Und langsam zieht dann die gesamte Gesellschaft nach. Das ist in China so noch nicht gegeben. Ein großer Teil der Chinesen ist noch so "arm", dass sie Produkte kaufen müssen, die Kopien sind oder jedenfalls kostengünstig.

STANDARD: Ist Innovation in einem so kontrollierten Land wie China nicht ein Widerspruch in sich?

Göbel: China ist kein totalitärer Staat. Es gibt natürlich Repressionsinstrumente. Und Menschen, die das Regime stürzen wollen oder Alternativen dazu vorschlagen, werden verfolgt. Aber jenseits dessen wirkt der Staat relativ wenig in den privaten Bereich hinein. Das ist also nicht das Problem. Das Problem vielmehr ist das Schulsystem, in dem sehr viel auswendig gelernt wird, in dem die Lehrer etwas behaupten und die Schüler mitschreiben. Es gibt wenig Austausch und Förderung von Kreativität. Aber: Viele Chinesen studieren im Ausland und kehren zurück. Die Zahl dieser Rückkehrer steigt, weil sie in China gute Arbeitsverhältnisse vorfinden.

STANDARD: Es braucht also neben der ökonomischen gar keine politische Öffnung, um eine Hochtechnologienation zu werden?

Göbel: Ich persönlich hoffe, dass es eine politische Öffnung gibt, damit es den Menschen besser geht. Aber ist das notwendig, um wirtschaftlich innovativ zu sein? Das ist schwer zu sagen. Die Art von Kreativität, die in Kunst und Kultur gefragt ist, könnte man auch im heutigen China ausleben. Menschen gehen ins Ausland, sie haben die Möglichkeit, sich zu informieren. Die Frage ist: Brauchen sie jene politischen Informationen, die sie eben nicht bekommen, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein? Inkubatoren für Start-ups funktionieren jedenfalls auch in China. 2015 hatten bereits 50 Prozent der Chinesen Zugang zum Internet, der wirtschaftliche Informationsaustausch ist ja da.

STANDARD: Wenn es für China wirtschaftlich weiter immer schlechter läuft, welche politischen Szenarien würden Sie dann sehen?

Göbel: Ich würde es gar nicht an der Wirtschaft festmachen. Natürlich verknüpfen viele Beobachter derzeit die Stabilität Chinas mit der Wirtschaft. Aber daran glaube ich nicht, weil viele Menschen auch von einer prosperierenden Wirtschaft unterdurchschnittlich profitieren und dadurch Unzufriedenheit entsteht. Sie werden zwar mit der Welle nach oben gehoben, sehen aber gleichzeitig den Abstand zu den Reichen wachsen. Die Frage nach der Massenarbeitslosigkeit stellt sich. Aber haben wir diese nicht schon? Es gibt viele Studien, die dies nahelegen. Die Rede ist von bis zu 20 Prozent Arbeitslosigkeit. Für mich ist die Gefahr eher der Mix an Themen, die wir derzeit sehen: die Luftverschmutzung, Geschichten wie der offensichtlich menschlich verschuldete Erdrutsch in Shenzhen, eine stockende Antikorruptionskampagne, soziale Spannungen, internationale Konflikte, etwa mit Japan. Diese Mischung von Faktoren ist sehr schwer vorherzusehen. Eine seriöse Prognose kann da niemand abgeben. (Christoph Prantner, 8.1.2015)