Bild nicht mehr verfügbar.

Auch auf den monotonsten Hotelfluren kann einem/r unvermittelt die Frau / der Mann des Lebens begegnen. Oder auch nicht: In "Anomalisa" gibt es wenige Dinge, die selbstverständlich erscheinen.

Foto: AP

Trailer (deutsch)

KinoCheck

Trailer (englisch)

Paramount Pictures

Wien – Eine Sexszene in einem Hotelzimmer. Keine eilige Sache, sondern hingebungsvoll, zärtlich, ein wenig tollpatschig und auf eine Weise unmittelbar und aufrichtig, wie es im Kino nur ganz selten der Fall ist. Das Überraschende: Es sind keine Realmenschen, die hier miteinander schlafen, sondern zwei Puppen. Sie sind zwar unserer Spezies nachempfunden, darin allerdings keineswegs perfekt. Schon die beiden Gesichtshälften sind durch einen feinen Riss voneinander getrennt. Warum lässt man sich auf diese Illusion so freimütig ein?

Charlie Kaufman und Duke Johnson, die beiden Regisseure des Animationsfilms Anomalisa, haben darauf keine eindeutige Antwort parat. "Wir haben echt hart daran gearbeitet, einen verletzlichen Moment zwischen diesen beiden Menschen zu schaffen", beginnt Kaufman zu erzählen, der Autor des Films, dem wir schon Being John Malkovich und Eternal Sunshine of the Spotless Mind verdanken: "Als wir die Szene nach sechs Jahren Arbeit das erste Mal Freunden und Familie zeigten, wurde der Raum ganz still. Ich dachte: Oh Gott, ich weiß nicht, was sie denken! Doch nachher sagten sie, es sei die wahrhaftigste Sexszene gewesen, die sie je gesehen haben."

Duke Johnson – er beaufsichtigt die Animationen – führt ein wenig tiefer in das Geheimnis dieses einzigartigen Films: "Es ist eine exakt choreografierte Szene, die aber überhaupt nicht choreografiert erscheinen soll. Eines der schwierigsten Unterfangen bei Stop- Motion! Vieles davon sieht das Publikum gar nicht: Die Stoffe, die feinen Bewegungen, das Timing – es beginnt schon damit, wie die Figur die Hose abstreift." Ja, ein sehr langsamer Striptease sei das, ergänzt Kaufman.

Anomalisa, auf dem Filmfestival von Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, erzählt vom Geschäftsreisenden Michael Stone, der in Cincinnati in einem Hotel absteigt, in dem er seine erfolgreichen Überlegungen zur Dienstleistungskultur vortragen soll. Der Experte für Motivation – eine der für Kaufman typischen Verschränkungen – ist jedoch selbst keineswegs Vorbild für guten Ansporn, eher das Gegenteil.

Alle sind dieselbe Person

Die konsumorientierte Welt ist dem schon angegrauten Michael nämlich zur monotonen Wüste geworden, jeder Mensch wirkt auf ihn so, als wäre er derselbe. Entsprechend gelangweilt, ausgeblutet steht er im eigenen Leben da. Im Film haben alle anderen Figuren dieselben freundlich-unverbindlichen Gesichter – und nicht umsonst heißt das Hotel Fregoli, nach der gleichnamigen psychischen Störung, bei der man glaubt, dass eine Person alle anderen ist.

Solche Referenzen machen Kaufman Spaß – auch wenn er sie nur metaphorisch verstanden wissen will. Er lese gern Texte über psychische Störungen, über Gehirnfunktionen oder subjektive Erfahrungen. Das Stück, auf dem der Film basiert, hat er ursprünglich als Hörspiel konzipiert und aufgeführt. "Als ich es schrieb, war mir klar, dass Michael jemanden finden müsste, der anders, besonders ist – ich wusste nur nicht, wie ich dort hinkomme. Solche Herausforderungen stelle ich mir beim Schreiben immer."

Dass schon damals Tom Noonan "alle anderen" Figuren sprach, kam dem Budget entgegen. Auch der Brite David Thewlis als Michael und Jennifer Jason Leigh als jene Frau, die aus der Menge herausragt, waren schon dabei: Letztere ist Lisa, die "Anomalisa" in den Augen Michaels, die ihn mit ihrer Natürlichkeit bannt, mit ihrer Stimme verzaubert. Dass es ihr gerade mit einer scheinbar totgespielten Cyndie-Lauper-Nummer gelingt, ihm Tränen in die Augen zu treiben, ist ein schönes Beispiel für diese besondere Mischung aus Melancholie und Ironie bei Charlie Kaufman.

Die Puppen selbst wurden mit dem 3-D-Drucker (nach realen Menschenmodellen) gefertigt, was eine besonders körnige Textur, ähnlich Wandverputz, erzeugt. "Wir hatten den Ehrgeiz, die Figuren spezifisch und zugleich anonym erscheinen zu lassen", erläutert Duke. Ein Modellieren, das der Ton noch spezifischer macht, da Nebengeräusche, Atmen, Hüsteln und anderes, nicht aus den Dialogen herausgefiltert wurden. Die persönliche Aura des Films, der Grund, warum wir uns mit den Puppen identifizieren, ist hier zu finden. In diesem Realitätsbestreben ist Anomalisa auch die große Anomalie zum gängigen Zeichentrickfilm. (Dominik Kamalzadeh, 21.1.2016)