Da fehlt nur noch das Spritzbesteck: Die neue Gucci-Kampagne wurde auf den Spuren von Christiane F. in Berlin fotografiert.

Foto: Gucci

Die Farben! Die Muster! Die Silhouetten! Die neuen Gucci-Kollektionen sind ein Anschlag auf die Netzhaut.

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Der Mann hinter der neuen Gucci-Ästhetik heißt Alessandro Michele, ist 43 und kommt aus Rom.

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Es ist eine dieser Geschichten, die in Filmen oder Büchern öfters, in der Realität aber selten vorkommen: Ein junges Talent werkt zwölf Jahre lang in der zweiten Reihe. Über Nacht kriegt es die Möglichkeit, in die erste vorzurücken. Aus dem Aschenputtel wird Cinderella, aus einem völlig unbekannten Designer der neue Star der Branche.

Ereignet hat sich die Geschichte vor ziemlich genau einem Jahr bei einem der weltweit größten und wichtigsten Modehäuser. Mit einem Umsatz von dreieinhalb Milliarden Euro ist Gucci das Powerhaus des französischen Luxuskonzerns Kering. Die Gewinne oder Verluste, die hier erwirtschaftet werden, bestimmen über Gedeih und Verderb des gesamten Konzerns. Als Tom Ford Chefdesigner war, wurde Gucci zum Epizentrum von Sexyness. Unter seiner Nachfolgerin Frida Giannini allerdings recht bald zu einem Synonym für gepflegte Langeweile. Als die Umsätze drei Saisonen hintereinander sanken, zog man im Jänner vergangenen Jahres die Reißleine. Alessandro Michele wurde zum neuen Chefdesigner ernannt.

Alessandro wer? Selbst Brancheninsidern war der 43-Jährige mit den Zottelhaaren und dem Rauschebart kein Begriff. Ein Designer unter vielen aus Guccis Designteam. Fünf Tage (!) hatte Michele Zeit, eine komplette Kollektion aus dem Boden zu stampfen. Fünf Tage, in denen er Guccis stromlinienförmige Python-Kroko-Luxusästhetik über den Haufen warf und den Journalisten und Einkäufern einen komplett neuen Look präsentierte. Nerd-Brillen zu Schlaghosen. Blümchenmuster auf Ringelpullis. Schluppenblusen und Fellpantoffeln.

Als Micheles Modeschau vorüber war, erhob sich das Publikum zu Standing Ovations, allerdings weniger um der Kollektion, sondern dem Mann, der da so schnell eingesprungen war, Beifall zu zollen. Die Kritiken waren durchwachsen, dem einen war die Kollektion zu "schwuchtelig", dem anderen zu flohmarktmäßig.

Ein Jahr und vier Michele-Kollektionen später ist die Kritik längst einer allgemeinen Euphorie gewichen. Magazine reißen sich darum, Teile aus den Kollektionen zu fotografieren, kein Trendbarometer, in dem der Name Gucci fehlen darf, in London kürte man Michele zum "Designer of the Year", Promis lassen sich von ihm ausstaffieren. Und als andere Modehäuser vor Weihnachten daran gingen, ihre Kollektionen im Ausverkauf zu verramschen, verkündete CEO Marco Bizzari plötzlich, dass der Sale bei Gucci in diesem Jahr gestrichen sei. Micheles It-Pieces verkauften sich schließlich auch so wie die warmen Semmeln.

Bizzari hatte in der Vergangenheit Stella McCartney in die Gewinnzone geführt und die Powermarke Bottega Veneta geleitet. Als neuer CEO konnte er bereits im zweiten Quartal des vergangenen Jahres einen Umsatzzuwachs von 16 Prozent vermelden. Dabei ging es mit dem Michele-Effekt zu diesem Zeitpunkt erst so richtig los. Angetrieben wurde dieser allerdings weniger von den professionellen (von Berufs wegen skeptischen) Meinungsmachern der Branche als von Konsumenten, Bloggern, Instagrammern, kurz den immer größer werdenden (virtuellen) Resonanzverstärkern der Mode. Sie stürzten sich auf Micheles romantische Left-Bank-Seventies-Comicbuch-Kollektionen wie Fliegen auf den neuesten heißen Scheiß.

Die Prada-Connection

"Schönheit hat oft eine hässliche Seite, das ist genau das, was ich mag." Beschreibt Alessandro Michele seine ästhetischen Vorlieben, dann klingt er ein bisschen wie eine andere Hohepriesterin der Mode-Avantgarde. Ähnlich wie bei Miuccia Prada sind es die Widersprüche und Widerhaken, die den Designer interessieren. Das Schöne im Hässlichen zu finden, das Hässliche im Schönen hervorzukehren. Wobei das Spiel mit den ästhetischen Codes bei ihm auch immer ein Spiel mit den Geschlechtergrenzen bedeutet.

Schon bei seiner ersten Kollektion (einer Männerkollektion) schickte Michele eine ganze Reihe von Frauen auf den Laufsteg. Ihr Look unterschied sich nicht wesentlich von jenem der Männer, was allerdings weniger die maskuline Seite seiner Frauenmode als die feminine der Herrenmode unterstreicht. Mit seinem Gender-Bending befindet sich Michele derzeit in guter Gesellschaft: Der britische Shootingstar J. W. Anderson hat mit einem ähnlichen Zugriff Erfolg.

Während Andersons Mode aber cool und verkopft anmutet, ist jene von Michele warm und sinnlich. Er spielt mit Mustern wie andere Designer mit ihren Launen, kaum ein Kleidungsstück, das ohne Referenzen an Fauna und Flora, kaum ein Teil, das ohne eine Vielzahl an Stickereien und Applikationen auskommt. Michele ist ein Eklektiker, einer, für den die Mode eine Art Wunderkammer ist. Und der sich am liebsten in seinen Fantasiewelten verliert.

Genau darauf scheinen nicht wenige gewartet zu haben. Die schnelle Modewelt ist in den letzten Jahren immer illusionsloser geworden. Jetzt ist da jemand, der endlich wieder ein paar Illusionen im Angebot hat. (Stephan Hilpold, RONDO, 29.1.2016)