Südtirols Landeshauptmann Kompatscher sagt, dass das "Prinzip Schengen" nicht infrage gestellt werden dürfe.

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STANDARD: Tirols Landeshauptmann Günther Platter, Ihr Gegenüber im Norden, hat Angst vor einer baldigen Verlagerung der Hauptfluchtroute von Slowenien nach Italien und denkt deshalb über eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf dem Brenner nach. Warum halten Sie das für einen Fehler?

Kompatscher: Was wir derzeit europaweit erleben, ist die Konsequenz des Fehlens einer europäischen Politik. Der Vertrag von Schengen sieht nicht nur offene Grenzen innerhalb Europas vor, sondern auch den Schutz der Außengrenzen. Das findet nur unzureichend statt. Nachdem es auch nicht gelungen ist, zu einer gemeinsamen Politik der europäischen Länder zu finden, was die Aufteilung der Flüchtlinge betrifft, bewegen sich jetzt die Staaten einzeln – Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich. Das müssen wir leider zur Kenntnis nehmen. Es kann aber nicht sein, dass deshalb das Prinzip Schengen angezweifelt wird.

STANDARD: Platter gedenkt, es auszuhebeln. Stehen die guten Beziehungen zwischen Nord- und Südtirol auf dem Spiel?

Kopatscher: Wenn Deutschland die Grenzkontrollen verstärkt, ist es eine logische Konsequenz, dass Österreich nachzieht. Das ist keine Maßnahme, die absichtlich gegen Südtirol gerichtet wäre. Wir bereiten uns natürlich ebenfalls darauf vor, wir müssen gerüstet sein für die Eventualität, dass sich die Flüchtlingsroute verlagert, die Brennergrenze kontrolliert wird und viele Menschen auch in Südtirol stranden könnten. Ich habe bei der italienischen Regierung eingefordert, dass entsprechend auch die slowenische Grenze stärker gesichert werden muss, wenn es zu dieser Verlagerung kommt.

STANDARD: Was hätte eine geschlossene Brennergrenze für Folgen?

Kompatscher: Ich hoffe nicht, dass es so weit kommen wird. Möglicherweise kommt es zu verstärkten Kontrollen. Es kann nicht sein, dass man deshalb aufgibt, was seit Jahrzehnten unser vorrangiges Ziel war: nämlich die Tiroler Landeseinheit wiederherzustellen, und zwar nicht durch das Verschieben von Grenzen, nicht durch das Errichten neuer Grenzen, nicht durch das Zurückfallen in nationalistische Konzepte, sondern über den europäischen Weg. Es ist schon dramatisch, dass der jetzt ein Stück weit von manchen infrage gestellt wird.

STANDARD: Aber was, wenn dann tatsächlich plötzlich Südtiroler Studenten auf dem Weg zur Universität Innsbruck an der Grenze stehen, man zum Einkaufen einen Pass braucht, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Folgen einer Grenzschließung?

Kompatscher: Gibt es eine gemeinsame europäische Politik, brauchen wir auch keine Grenzkontrollen im Inneren. Die Konsequenzen, die Sie beschreiben, sind völlig inakzeptabel. Da kann ich nicht widersprechen.

STANDARD: Was wäre ein sinnvoller gesamteuropäischer Weg?

Kompatscher: Wenn jetzt alle Staaten beginnen, ihre Außengrenzen stärker zu sichern, verschiebt sich das Problem zurück in den Süden. Dann haben wir die Situation, dass die Landroute unattraktiv wird und plötzlich wieder viele Menschen übers Meer nach Italien kommen, wie das schon vor eineinhalb Jahren der Fall war. Das wäre eine humanitäre Katastrophe. Wir brauchen also endlich Hotspots im Norden Afrikas, also jenseits des Mittelmeeres, um zu verhindern, dass weitere Menschen ertrinken.

STANDARD: Hierzulande geht es derzeit vor allem um Passkontrollen, Zäune und Obergrenzen – schottet sich Österreich ab?

Kompatscher: Ich stelle fest, dass jetzt ein schärferer Ton angeschlagen wird. Nicht nur in Österreich, auch in Deutschland. Weil man eben befürchtet, dass gesamtgesellschaftlich eine Situation der Überforderung einsetzt und dann die tatsächlich radikalen Kräfte, die sich zum Teil außerhalb des Verfassungsbogens bewegen, Oberhand gewinnen. Ich hoffe, dass es trotzdem gelingt, einen kühlen Kopf zu bewahren und der Tonfall wieder ruhiger wird.

STANDARD: Halten Sie den aktuellen Kurs Österreichs für gefährlich?

Kompatscher: Das eine ist das Ankündigen zusätzlicher Kontrollen, das andere wäre ein grundsätzliches Infragestellen von Schengen. Ich interpretiere die derzeitigen Entwicklungen so, dass da eine Strategie des Druckmachens dahintersteckt, damit sich endlich auf europäischer Ebene etwas bewegt.

STANDARD: Sie gehören der Südtiroler Volkspartei an, sind mit zwei Rechtsparteien konfrontiert. Warum scheinen Sie dennoch weniger Angst vor rechtem Populismus zu haben als Ihre christdemokratischen Kollegen in Österreich?

Kompatscher: In Südtirol sind wir bisher von dem Phänomen Flüchtlingskrise nur gestreift worden. Wir haben zurzeit 900 Asylantragssteller, die wir betreuen. Das sind in etwa so viele, wie jede durchschnittliche bayerische Gemeinde allein zu versorgen hat. Deshalb war es für uns einfacher, auf unsere humanitäre Pflicht zu verweisen. Klar ist aber auch, dass ab einer gewissen Größenordnung eine Gesellschaft überfordert sein kann. Dazu sollten wir es nicht kommen lassen. Dann laufen wir Gefahr, dass die Radikalen auf allen Seiten Oberhand gewinnen. Das möchte auch ich vermeiden.

STANDARD: Würde eine Grenzschließung auf dem Brenner ein Ende Ihrer bisher eher liberalen Flüchtlingspolitik bedeuten?

Kompatscher: Das würde nichts an der grundsätzlichen Haltung ändern. Wir müssen aber endlich unterscheiden: Bei der Flüchtlingskrise handelt es sich schon auch um eine humanitäre Katastrophe, aber gleichzeitig um eine große Migrationsbewegung. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Vielleicht muss man aber auch gar nicht befürchten, dass es zu drastischen Umwälzungen kommt. Inzwischen hat auch Slowenien angekündigt, die Grenzen stärker kontrollieren zu wollen, genauso Kroatien. Der gewünschte Dominoeffekt tritt doch schon ein. (Katharina Mittelstaedt, 27.1.2016)