Lubomyr Melnyk, der ukrainische Begründer der "Continuous Music", gastiert am Sonntag in Wien.

Foto: Tonje Thilesen

Wien – In einem Bächlein helle, da schwimmt nicht nur die Forelle. Wenn es um stetig fließende, gluckernde, sprudelnde und tosende Musik und naheliegende Vergleiche geht, wird in deren Beschreibung auch gern einmal verbal Wasser gelassen. Der ukrainische Komponist und Pianist Lubomyr Melnyk lädt diesbezüglich mit einem von ihm mit leichter Hand produzierten Klangfluss ein, der nicht nur weltrekordverdächtig ist, sondern auch tatsächlich zwei Weltrekorde in den 1980er-Jahren erspielte. Im Sprint pro Sekunde 19,5 Töne spielen sowie im Durchschnitt zwischen 13 und 14 Noten pro Sekunde über eine Stunde lang durchhalten, das ist der Duracell-Hase in Gold!

Weil also eh alles immer den Bach runtergeht, widmete sich Lubomyr Melnyk 2015 einmal mehr kompositorisch der Königsdiziplin im Stendhal-Syndrom-Schwimmen auf 88 Tasten: psychosomatische Überlastung bei kultureller Reizüberflutung. Melnyk entwickelte daraus seine schnelllebige wie komplexe "Continuous Music". Diese gilt es körperlich und mental zu trainieren. Man gelangt in einen tranceartigen, jedoch hochgradig aufmerksamen, nun ja, Seinszustand, und man kann so diese in jeder Hinsicht auszehrende wie glückseligmachende Musik mit Stücklängen von bis zu einer halben Stunde überhaupt erst spielen.

Ende November ist das aktuelle Album Rivers & Streams erschienen. Darauf ist die für das Schaffen des 68-jährigen Komponisten geradezu klassische 20-minütige Komposition The Amazon zu hören, eine gut durchziehende und dann stark aufdrehende Talfahrt von den Bächlein der Ursprungsquellen hinunter über pittoreske Kaskaden zur Klimax jedes Musikers, der fingerfertig Arpeggien ins Piano plätschern lässt.

Ein Arpeggio, also ein Akkord, dessen Töne nicht gleichzeitig gehämmert, sondern schnell, schnell, superschnell, tirili, tirilo, tirilaha einzeln nacheinander gespielt werden, erschließt sich über die Masse. Mehr ist mehr. Und wenn das nicht genug Druck macht, wird eben das Blitz und Donner machende Fortepedal tüchtig durchgetreten. Obertöne mit sich selbstständig machenden Melodien sind die Folge.

Anlässlich der Premiere von Mozarts Entführung aus dem Serail soll Kaiser Joseph II. gesagt haben: "Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten." Die Gefahr des Dammbruchs und Landunter wegen Kitschs ist bei Lubomyr Melnyk jederzeit gegeben. Geschult am Minimalismus der 1960er- und 1970er-Jahre ebenso wie in klassischer Klavierromantik oder Keith Jarretts Köln Concert (abgespielt in doppelter Geschwindigkeit), entsteht bei Melnyk allerdings ein hypnotischer Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Wasser Marsch! (Christian Schachinger, 28.1.2016)