Gulistan lebt erst seit Beginn des syrischen Krieges in der Kleinstadt Cizre: "Langsam überlege ich aber, in meine Heimat zurückzukehren."

Foto: Hülya Tektas

Wenn Ronahi nachts keine Wache halten muss, verewigt sie sich mit feministisch-revolutionären Sprüchen an den Hauswänden.

Foto: Hülya Tektas

Die YDG-H, die Jugendbewegung der PKK, wurde 2013 in Cizre gegründet.

Foto: Hülya Tektas

Das Haus, in dem die Großfamilie Cagirga lebt, befindet sich am Fuße eines Hanges und bietet einen Ausblick auf die kurdische Stadt Cizre an der irakisch-türkischen Grenze. In der karg eingerichteten Erdgeschosswohnung gibt es einen Fernseher, in dem gerade ein kurdischer Nachrichtensender läuft.

"Können Sie sich ein größeres Leid für eine Mutter vorstellen, als die Leiche ihres Kindes im Kühlschrank aufbewahren zu müssen? Ich habe eine Nacht neben Cemiles Leiche geschlafen", erzählt die 54-jährige kurdische Hausfrau Emina Cagirga und küsst das Foto ihrer Tochter so behutsam, als wäre es lebendig. Ein weiteres Foto von ihr hängt direkt über dem Fernseher, neben den Fotos anderer verstorbener Verwandter. Der Platz in der Mitte gehört Cemile, um die die ganze Familie nach wie vor trauert.

Neuntägige Ausgangssperre

Am 4. September 2015 wurde über Cizre eine Ausgangssperre verhängt, die insgesamt neun Tage dauerte und zwölf ZivilistInnen das Leben kostete, darunter auch jenes von Eminas 10-jähriger Tochter Cemile. Am dritten Tag der Ausgangssperre, als die Schüsse aufgehört haben zu fallen und das Gefecht zwischen den türkischen Soldaten und den kurdischen Rebellen beendet schien, ging die Familie Cagirga auf die Straße, um nach den Nachbarn zu sehen. Plötzlich hörte man, wie türkische Soldaten in Panzern die Wohngegend stürmten. Erneut fielen Schüsse, und diesmal trafen sie auch Cemile, die gerade vor der Tür spielte. Blutüberströmt lag sie vor der Tür der zwei Meter hohen Wand, die das Haus vor der Straße schützen sollte.

Das eigentliche Martyrium der Familie Cagirga begann jedoch erst danach. Aufgrund der andauernden Ausgangssperre und der Kämpfe konnte die Familie Cemiles Leiche nicht gleich bestatten, sondern musste die darauffolgenden Tagen neben ihrer Leiche verbringen. "Ich wusch ihren ganzen Körper und bemalte ihre Hände mit Henna", beschreibt Emina, wie sie ihre Tochter für die letzte Reise zurechtmachte. In der ersten Nacht schlief sie neben der Leiche, danach musste sie sie im Kühlschrank aufbewahren, bis Tage später endlich die Soldaten kamen und sie ins Leichenhaus brachten. Das Begräbnis fand erst nach Ende der Ausgangssperre statt.

Das ganz normale Wahnsinn

Mittlerweile sind einige Monate vergangen und in Cizre ist der Winter angebrochen. Im kleinen Friseursalon im Stadtzentrum improvisieren die Besitzerin Neriman und ihre 17-jährige Gehilfin Berfin so gut es geht gegen die Wasser- und Stromausfälle. Tagelang andauernde Ausgangssperren, die Gefechte zwischen kurdischen Rebellen und den türkischen Kräften sowie die ständige Präsenz von Panzern und bewaffneten Soldaten wirken sich auf das Geschäft aus.

Dünne Vorhänge verhindern, dass Blicke von draußen in den Friseursalon dringen. Die Frauen drinnen können das Geschehen auf der Straße dagegen vom Salon aus beobachten. Einige tragen kein Kopftuch, andere hingegen schon, und manche tragen sogar eine Ganzkörperverhüllung. Während der Stromausfälle wird entspannt geraucht und über die neuesten Haartrends gesprochen. Nachdem die Haare gemacht sind, verlassen die Frauen den Laden verhüllt.

Gulistan spaziert im kleinen Laden auf und ab. Mal öffnet sie ihre langen, blondgefärbten Haare und posiert vor dem Spiegel, mal raucht sie eine Zigarette, singt oder unterhält sich mit den anderen Frauen. Die 32-jährige Hausfrau, die aus Syrisch-Kurdistan stammt, lebt erst seit Beginn des syrischen Krieges in der Kleinstadt Cizre. "Langsam überlege ich aber, in meine Heimat zurückzukehren", sagt sie gleichgültig und fügt hinzu: "Hier ist es mittlerweile genauso schlimm wie dort."

Die kleine Wohnung im Zentrum der Stadt Cizre teilt sich Gulistan mit ihrer gebrechlichen Mutter. Auf die Frage, wie sie ohne eine Beschäftigung finanziell zurechtkommt, antwortet sie mit einem Schulterzucken. Die Arbeitsmöglichkeiten in der rund 120.000-EinwohnerInnen-Stadt Cizre sind ohnehin besonders für Frauen sehr begrenzt. "Der liebe Gott kümmert sich um uns", meint die junge Frau gelangweilt, die sich ihre Zeit oft im Friseursalon ihrer Freundin vertreibt.

Revolution mit Kalaschnikows

Es ist ein für Cizre ungewöhnlich kalter Wintertag, und die Dämmerung kündigt nicht nur eine lange Nacht, sondern auch Kämpfe und Straßenschlachten an. Jeder hier weiß, dass man spätestens ab 18 Uhr nicht mehr rausgehen sollte, auch wenn die Ausgangssperre inzwischen aufgehoben wurde.

Nur einige Kinder spielen unbekümmert auf der Straße, obwohl Schüsse fallen. Schnell ereilt die BewohnerInnen die Nachricht, dass zwei Polizisten getötet wurden. Sie wissen, was das bedeutet: Die Soldaten werden wieder mit den Panzern wahllos in die Straßen schießen.

Die leeren Straßen von Cizre gehören im Moment jedoch den bewaffneten kurdischen Kämpfern. Vermummte junge Frauen und Männer mit Kalaschnikows halten in den selbst errichteten Graben Wache.

Die 22-jährige Ronahi, die an jenem Abend gemeinsam mit zwei jungen YDG-H-Kameraden Stellung hält, spricht nur wenig. Weder verrät sie ihren richtigen Namen noch ist sie bereit für ein Foto. Nicht warm genug angezogen, zittern ihre Hände vor Kälte und sind mittlerweile schon ganz rot; dennoch hält sie ihre Kalaschnikow, auf die Fotos von bereits gefallenen Kämpferinnen geklebt sind, ganz fest und dicht an ihren Körper. Sowohl Ronahi als auch ihre KameradInnen sind trotz beißender Kälte nicht warm angezogen. Mit dem Tee, den ihnen einige Frauen die ganze Nacht über vorbeibringen, wärmen sie sich auf. In dieser kalten Nacht haben sie sogar Feuer gemacht.

Tagsüber arbeitet Ronahi. Wenn sie nachts keine Wache halten muss, verewigt sie sich mit feministisch-revolutionären Sprüchen an den Hauswänden — in dem Wissen, dass vermutlich bald ihr Foto auf die Kalaschnikow einer anderen Person geklebt wird. An der Hauswand hinter Ronahis Stellung steht: "Die Revolution in Kurdistan ist die gesellschaftliche Revolution der Frauen und bedeutet die Freiheit der Frauen."

Rebellische Jugend

Die YDG-H, die Jugendbewegung der PKK, wurde 2013 in Cizre gegründet. Mit ihrer Gründung begann eine neue Ära der kurdischen Bewegung. Jene junge Generation, die mit dem Krieg der 1990er-Jahre aufgewachsen ist, begann, statt Steine Molotowcocktails auf die Soldaten zu werfen. Während die PKK-KämpferInnen in den Bergen und ländlichen Gebieten kämpfen, übernahmen die radikaleren YDG-H-KämpferInnen die Organisation der Städte und die Einrichtung und Verbreitung der Selbstverwaltungen.

Es ist kein Zufall, dass die YDG-H in Cizre gegründet wurde. Die 120.000-EinwohnerInnen-Stadt ist seit den frühen 1990er-Jahren ein Symbol der kurdischen Bewegung. Der erste Volksaufstand der Kurden fand in Cizre statt und wurde dort blutig niedergeschlagen. Die Familie Cagirga hat damals insgesamt sieben Angehörige verloren. Seitdem ist Cizre immer wieder Schauplatz bewaffneter Auseinandersetzungen.

Zudem gibt es rund um Cizre mehrere PKK-Stellungen. Am einflussreichsten ist die YDG-H in Cizre, wo sie die Kontrolle über einige Viertel übernommen hat. In den Stadtvierteln, in denen die Selbstverwaltung proklamiert wurde, sind fast an jeder Hauswand Bilder der PKK-Kämpfer sowie revolutionäre Sprüche zu sehen, die Quasi-Manifestation der befreiten Zonen. Die von der YDG-H errichteten Barrikaden sollen den Eintritt der türkischen Soldaten, Polizisten, Sonder- und Spezialeinheiten in diese befreiten Zonen, also in die Viertel, in denen die Selbstverwaltung ausgeübt wird, verhindern.

Sehnsucht nach Frieden

Im Hause Cagirga läuft der Fernseher nach einem Stromausfall inzwischen wieder. Ein kleines, hastig sprechendes Kind ist im Bild, das laut und weinend die Zeit der Ausgangssperre beschreibt. Seine traurige Stimme hallt in der fast leeren Wohnung.

Ruhig, gefasst, aber fordernd spricht Emina und stellt wie das Kind im Fernsehen klagend Fragen: "Warum stempeln sie uns als Terroristen ab? Warum behandelt uns dieser Staat wie Bürger zweiter Klasse? Wir wollen Frieden, wann wird dieser Krieg endlich enden?" Fragen, auf die zurzeit niemand eine Antwort weiß.

Mittlerweile ist es schon Mitternacht und Zeit für die "nächtlichen Runden" der Panzer. Mehrere Feuerwehrraketen steigen in den Himmel auf und erhellen die Nacht, während türkische Soldaten von Panzern aus blind in die Straßen schießen. Das Geräusch der Schüsse hallt in den leeren Straßen wider, manche davon treffen sogar Häuser — Zustände, an die sich die BewohnerInnen der am Ufer der Tigris liegenden Stadt schon vor langer Zeit gewöhnt haben. (Hülya Tektas, 7.2.2016)