Der Schöpfer bei der Arbeit. Sam Phillips sitzt am Aufnahmegerät in seinem Sun Studio in Memphis, Tennessee.

Foto: Phillips Family

Sam-Phillips-Biograf Peter Guralnick.


Foto: D. Cahr

Wien – Der Ansatz war missionarisch und ungewöhnlich. Ein Weißer wollte Afroamerikanern die Möglichkeit geben, ihre Musik aufzunehmen. Und das nicht bloß, um sie auszubeuten. Das hätte im segregierten Süden der USA zwar niemanden gestört oder gewundert, war aber nicht die Mission von Sam Phillips. Im Gegenteil. Er liebte schwarze Gospels und die Lieder der Feldarbeiter seit seiner Kindheit. In dieser Musik und ihrer Spiritualität sah er die Möglichkeit, Rassenschranken aufzuheben.

Das allein war schon verwegen, doch Phillips sollte gar eine Revolution auslösen. Sam Phillips gründete das Memphis Recording Service und das Sun Studio. Dort, in Memphis, Tennessee, nahm Ike Turner den Song Rocket 88 auf, dort spielte Howlin' Wolf unerhörten Blues, und 1954 betrat ein scheuer junger Mann mir markanten Koteletten das Studio: Elvis Presley. Sam Phillips stellte ihnen allen ein Mikrofon vors Gesicht, drückte auf "Record" und erfand so den Rock 'n' Roll.

Memphis Vic

Sam Phillips – The Man Who Invented Rock 'n' Roll heißt auch die von Peter Guralnick verfasste Biografie des 2003 im Alter von 80 Jahren verstorbenen Pioniers.

Guralnick ist eine Autorität unter den Chronisten der Popkultur. Er verfasste Standardwerke wie Sweet Soul Music, Feel Like Going Home: Portraits in Blues, Country, and Rock 'n' Roll sowie die als offizielle Elvis-Biografie geltenden Wälzer Last Train to Memphis und Careless Love. Mit penibler Leichtigkeit erzählt er die Geschichte eines Mannes, der den Lauf der Geschichte der westlichen Welt veränderte.

Seit 1979 kannte Guralnick Phillips, und im Laufe der Zeit wurden die beiden Freunde. Das könnte der Nährboden für Verblendung und Mythologisierung sein, doch Guralnick ist bei aller Faszination für sein Sujet auch dessen schärfster Kritiker.

Geförderte Fehler

Phillips Zugang zur Musik war ungewöhnlich. Er war auf der Suche nach der "Perfect Imperfection". Da konnte ruhig das Telefon während einer Aufnahme läuten, genau das machte sie für ihn speziell. Oder wie Guralnick sagt: "If you weren't doing something different, you simply weren't doing anything at all." Phillips interessierte die Magie des Unberechenbaren. Fehler bei den Aufnahmen nahm er als wesentliche menschliche Zutat nicht nur in Kauf, er förderte sie nachgerade.

Explosiver Stoff

Als Carl Perkins in Blue Suede Shoes irrtümlich den Text änderte, ließ Phillips sich vom heftig protestierenden Perkins nicht davon abbringen, diese für ihn ungleich schärfere Version zu veröffentlichen. Sie verkaufte sich millionenfach. Nur eines von vielen Beispielen. Ähnliches erzählten Elvis, Johnny Cash, Jerry Lee Lewis, Roy Orbison, ja, alle, die mit Phillips gearbeitet haben.

Tausende Meilen ist er mit den Singles seiner Künstler durch den Süden gefahren, um sie den DJs der Radiostationen schmackhaft zu machen. Eine Arbeit, die bei Elvis schließlich aufging. Für Phillips war Elvis ein typischer junger Mann jener Umgebung, in der der 1923 in Florence, Alabama, Geborene selbst aufgewachsen war. Das Resultat eines religiös-provinziellen Umfelds, in das sich Sexualität und kulturelle Grenzüberschreitung mischten. Explosiver Stoff.

Memphis Vic

Und Phillips wollte diese Explosionen aufzeichnen. Das ist ihm hundertfach gelungen. Doch als Elvis bekannter wurde, konnte ihn Phillips mit seinem kleinen, unabhängigen Label nicht halten. Dasselbe passierte ihm mit Howlin' Wolf, den er ans Chicagoer Chess-Label verlor, das passierte ihm mit Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und anderen. Doch er verbitterte ob all dieser Abgänge nicht, sondern blieb den meisten bis in den Tod ein guter Freund.

Nichts war Sam Phillips so wichtig wie seine Unabhängigkeit, nur sie garantierte ihm die Rahmenbedingungen, um Künstlern ihre Besonderheiten zu entlocken. Den jungen Phillips kann man sich als konventionellen Anzugträger vorstellen. Ein Familienvater, der nicht getrunken, aber seine Nächte im Studio verbracht hat. Daneben baute er weiter auf die Macht des Radios und gründete etwa mit dem Sender WHER das erste rein weiblich betriebene Radio des Planeten.

Lange Haare, langer Bart

Erst später, als Phillips' Label kaum noch Künstler besaß, er durch die Verlagserträge, das Radio und seine Investitionen in die Kette Holiday Inn ein Leben im Wohlstand führte, wurde er erkennbar exzentrisch. Er ließ sich Haare und Bart wachsen, färbte beides hartnäckig bis zu seinem Tod und gefiel sich zusehends in der Rolle, die ihm von der Geschichte zugeschrieben wurde: Der Erfinder des Rock 'n' Roll zu sein – immer im Wissen um die Ungenauigkeit dieser Festschreibung. Aber die kippte er einfach mit Whiskey runter, an dem hatte er später doch Gefallen gefunden.

Er förderte seine Söhne Knox und Jerry, gründete ein Studio in Nashville, kaufte weiter Radiostationen und blieb eine umtriebige Größe im Geschäft. Als Prediger der Originalität genoss er es, dass seine Arbeit immer wieder von neuen Generationen entdeckt wurde. Stundenlang memorierte er Geschichten über Johnny Cash oder Roy Orbison, und Peter Guralnick erwies sich einmal mehr als aufmerksamer Zuhörer und Chronist, der das Werk dieses Mannes wahrlich umfassend abbildete.

Die Musik zum Buch

Parallel zu der Biografie kompilierte Guralnick die Sammlung The Man Who Invented Rock 'n' Roll, die als Doppel-CD oder – soeben erschienen – als Dreifach-LP erhältlich ist. Anhand vieler, meist wenig bekannter Aufnahmen aus den Sun Studios lässt sich die Faszination für das Werk des Sam Phillips immer noch nachvollziehen. Was für wunderbare, verrückte Musik! (Karl Fluch, 2.2.2016)