Es ist kaum zu glauben: Die SPÖ ist die stärkste Partei Österreichs. Sie verfügt im Nationalrat über die meisten Mandate und stellt obendrein den Bundeskanzler. Die Papierform hat mit der Realität freilich wenig zu tun. De facto ist das Gewicht ganz anders verteilt.

Treibende Kraft in der Regierung ist die ÖVP. Dieser Satz klingt wie aus dem Phrasenbaukasten eines Parteisekretärs, ist in diesem Fall aber nicht gelogen. Seit Wochen setzt der vermeintliche Juniorpartner die Themen, lenkt die Debatten – und treibt die SPÖ vor sich her.

Das Heft aus der Hand nehmen ließen sich die Sozialdemokraten in der Causa prima. Lange hielt Parteichef Werner Faymann in der Flüchtlingsfrage einen ehrenvollen Kurs, der an Solidarität im In- wie im Ausland appellierte. Doch mit der Stimmung in der Bevölkerung kippte zeitverzögert auch der Regierungschef. Den schwarzen Ruf nach immer höheren Hürden für Asylwerber erwiderte Faymann unentschlossen – mal stimmte er in den Chor ein, mal hielt er dagegen. Beim jüngsten Asylgipfel gab längst der Koalitionspartner den Ton an: Die ÖVP wies den Weg zur Obergrenze, die SPÖ stolperte hinterher.

In der Sozialdebatte halten die Genossen bisher die Linie, doch in der Defensive sind sie auch da. Die ÖVP trommelt landauf, landab für Kürzungen der Mindestsicherung und Einschnitte im Pensionssystem – und zwingt dem Regierungspartner eine Diskussion auf, die dieser am liebsten gar nicht führen würde.

Das veranstaltete Getöse sagt nichts über die Qualität der Vorschläge aus. Oft genug haben die Schwarzen nur Scheinlösungen zu bieten. Selbst wenn man humanitäre Bedenken ausblendet, ist die propagierte Obergrenze für Asylwerber wenig wert, solange ein schlüssiger Plan zur Durchsetzung fehlt. Die generelle Streichung von Sozialleistungen für Flüchtlinge droht viel größeren Schaden in Form von Armut und Integrationsproblemen anzurichten, als sie angesichts der Jobmisere als Anreiz zum Arbeiten nützen kann.

Doch Neinsagen allein ist keine abendfüllende Politik. Bietet die SPÖ keine alternative Erzählung an, braucht sie sich nicht zu wundern, wenn schwarze Ideen Schlagzeilen und bei den Wählern Eindruck machen. Kann eine Partei in einer Debatte nichts gewinnen, muss sie eben andere Themen anstoßen. Wer das Spielfeld bestimmt, genießt Heimvorteil.

Das letzte Mal hatte die SPÖ mit ihrer Kampagne für Verteilungsgerechtigkeit vor der Steuerreform Oberwasser, seither geht sie oft unter. Der Kanzler steckt die Offensive gern um des Koalitionsfriedens willen zurück, und danach wählt er auch sein Personal aus. Sozialminister Alois Stöger, immer mehr das Rolemodel der Faymann'schen Riege, hat das Prinzip im STANDARD-Interview so beschrieben: Lieber eine nüchterne Verhandlungsrunde als eine fette Headline – das Ergebnis werde es danken.

Das kann man für nobel halten, aber auch für gefährlich zaghaft. Respektable Bilanzen allein gewinnen keine Wahlen; und um Forderungen durchzusetzen, tut eine in einer Koalition gefangene Partei gut daran, öffentlich um Rückhalt zu werben. Will die SPÖ ihr Profil schärfen, darf die Alternative zum ständigen Streit nicht Stillhalten lauten. Sonst wird das Elektorat das rote Dilemma eines Tages auf seine Weise lösen: indem es die Sozialdemokraten aus der Regierung wählt. (Gerald John, 4.2.2016)