Manuel Jorge Marmelo, "Eine tausendmal wiederholte Lüge". Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. € 19,40 / 216 Seiten. Verlag A 1, München 2015

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Wenn sich ein Autor einen Satz des Argentiniers Cesar Aira als Motto ausleiht, dann ist zu vermuten: Dies wird nicht die einzige trickreiche Falltür sein, durch die man beim Lesen fällt. Eine ganze Reihe moderner und postmoderner Magier, Fakire und Hinters-Licht-Führer der Fiktion haben beim zauberhaft verstrüppten Roman des Portugiesen Manuel Jorge Marmelo Pate gestanden, von Borges über Cortázar bis Enrique Vila-Matas, von Roberto Bolaño bis Italo Calvino.

Die Geschichte ist, scheint's, einfach. Da nutzt ein Mann in einer Stadt, die Anklänge an Marmelos Heimatstadt Porto, die alte Bürger- und Portweinstadt am Douro, besitzt, viel und gern den öffentlichen Nahverkehr. Er hat ein dickes Buch dabei, das mehr als 1200 Seiten zählt. Er liest darin. Und erzählt den Omnibus-Mitfahrenden in tausend Varianten die Geschichte dieses einmaligen, herausragenden Mammut- und Monumentalwerks. Das gar keines ist. Denn es ist von vorne bis hinten erfunden.

Genauso wie sein Autor Oscar Schidinski. Der kam – angeblich – wenige Jahre nach 1900 in Budapest zur Welt, wuchs im immer antisemitischeren Land als Jude auf, floh 1938 erst nach Frankreich, von dort weiter nach Portugal, ergatterte, fast verhungert, noch einen Transitplatz auf einem Schiff nach Amerika und starb auf hoher See.

Auf seiner Zickzackreise hatte Schidinski, der vielleicht doch Gergelly Mihály hieß, in einer Schweizer Alphütte sein Lebenswerk zurückgelassen, das mutmaßlich letzte Exemplar des in Kleinstauflage erschienenen Romans Eroberte Stadt (ein Fernando Pessoa-Titel). Ein Bibliothekar, Freund von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, fand es, nahm es mit nach Olten, ordnete es in der Fachhochschulbibliothek ein.

Dort stieß ein Engländer auf diesen Mega-Roman. Er übersetzte das Buch ins Englische, ohne Echo, dafür mit einem Nachwort, dessen Informationen eventuell sämtlich erfunden waren. Ein Verleger in Lissabon verlegte die portugiesische Ausgabe, ohne jeden Hauch von Erfolg (aber vielleicht ist der Autor aus Belize, der im fiktiven Roman von Schidinski auftaucht und als Leichnam mitsamt Sarg final verloren geht, doch eine Erfindung von Borges, der eine Erfindung von Schidinski ist, der vielleicht doch Gergelly ...). Am Ende geht es, wie sollte es anders sein, wie ein Roman aus: mit einem Happy End – das selbstredend aus einem Buch entlehnt ist, aus Calvinos zauberischem Wenn ein Reisender in einer Winternacht.

Ein hinreißendes Vexierbild ist dies. Reich an Hin- und Herverzerrungen. Ein phantastisches Kaleidoskop-Kleinod, dessen trickreiche Drehschüttel-Brillanz und Ideen- wie anmutig intelligenter Anspielungsreichtum andere Autoren bis an ihr Schreibende tragen würden. (Alexander Kluy, Album, 10.2.2016)