Die Ikone des Surrealismus, Max Ernsts "Chinesische Nachtigall", entstand eigentlich für Tristan Tzaras Projekt "Dadaglobe".

Foto: ProLitteris, Zürich

Man muss Dada nicht verstehen, um Dada zu lieben, könnte ein Slogan zum Jubiläum lauten. 100 Jahre schlummerte Dada, so Kunsthaus-Zürich-Chef Christoph Becker und jetzt erlebe es einen echten Hype. Und tatsächlich kommt heuer kein Museum, kein Festival in der Stadt an der anarchistischen Antikunst vorbei, die die abendländische bürgerliche Kultur attackierte, ja selbst deren Trümmer noch einmal zertrümmerte, und Lachen als Waffe gegen den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges und den Nationalismus einsetzte.

Als "Flashmob" bezeichnete Becker den Umzug der Dada-Festgemeinde am Freitag vom Landesmuseum zum Kunsthaus und schließlich ins Cabaret Voltaire in der Spiegelgasse, wo am 5. Februar 1916 Dada im Saal der damaligen Meierei, als ein Voltaire und der Aufklärung verpflichtetes Künstlervarieté, das Licht der Welt erblickte. Es ist ein Hype um einen spukenden Geist, den keiner so richtig versteht. Aber vielleicht sei genau das Dadas Kern, so Becker, dass es selbst dann vermag, "einen Funken zu schlagen."

Ja, "rettet Dada vor den Dada-Verstehern", mahnte selbst Kulturminister Alain Berset ein. Denn das, von dem nur der Ober-Dada wusste, was es ist – "aber der sagt es niemand" (Johannes Baader) – ist nicht zu verstehen. War Dada, dessen Name wie Kinderbrabbeln klingt und im Französischen Schaukelpferd meint, überhaupt Kunst? Oder war es eine Geisteshaltung, Strategie?

Was nachvollziehbar wird, sind Schmerz und Ohnmacht, aus denen heraus der Dadaismus entstand. Genau dort setzt die Ausstellung Dada Universal (Kuratoren: Stefan Zweifel und Juri Steiner) im Landesmuseum an. Akustisch taucht sie Eintretende mitten hinein in die Hölle der Schlachtfelder, zwingt auf die Ebene des Gefühls. Aus dem Soundteppich aus Bombengrollen und Maschinengewehrsalven lösen sich einzelne Schüsse heraus, dazu prasselt ebenso unerbittlich der Regen: Im ersten Halbjahr 1916 starben allein bei Verdun und an der Somme eine Million Soldaten.

"Gadji beri bimba glandridi"

Dann hebt sich aus dem tosenden Irrsinn Hugo Balls Lautgedicht: "gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori". Laute ohne Sinn, Sprache zersplittert und zerfetzt wie die Leiber im Krieg, vorgetragen wie das Lamento eines Priesters. Ball, Emigrant wie viele der Dadaisten in der neutralen Schweiz und Hauptinitiator des Cabaret Voltaire, gab dieses Messgesangs-Wehklagen, an dessen Ende man ein "Umpf" zu vernehmen meint, ebendort, in ein kubistisches Bischofskostüm gehüllt, zum Besten. Ein lächerliches Kostüm, lächerlich wie Politik, Nationalismus und Militarismus, die den Zustand der Welt zu verantworten hatten. Und so erklärt sich, was Ball meinte, als er sagte: "Dada ist die Weltseele".

Man trommelte, tanzte, musizierte atonal und dissonant. Vor allem aber lachte man. Ein höhnisches Auslachen von Kaiser, König, Vaterland. Ihr kabarettistisches Varieté sei "ihr Candide gegen die Zeit", erklärte Ball und bezog sich damit auf Voltaires Satire Candide oder der Optimismus (1759), die Witz, beißenden Spott und Ironie als Waffen gegen das Übel der Welt zückte.

Emmy Hennings, Balls Lebensgefährtin, etwa trat in jenem Februar 1916 in der Spiegelgasse auf die Bühne und intonierte listig: "So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage". Aber aus dem fröhlich Beschwingten, bei dem laut mutgeklatscht wurde, wird in den weiteren Strophen ein "so morden wir alle Tage" und "so schweigen wir alle Tage." Meist wurde die Attacke gegen die Vernunft jedoch mit poetischem Unsinn geführt.

Der emotionale Weg, den die Schau hin zu Dada beschreitet, ist auch ein staunender: Wie eine volkskundliche Ausstellung, die einen seltenen Stamm, eine uralte fremde Kultur vorführt, nimmt sich die von Schwarz dominierte Halle mit den mächtigen Glasvitrinen aus. Von Dodo, jenem des Fliegens nicht mächtigen Vogel, der durch die Dada-Gedichte stelzt, geht es bis zur "Mona Lisa des Dadaismus" (Duchamps Readymade Fountain) oder bis zum von Louis Aragon formulierten Ende der Kunst: In Suicide (1920) präsentiert er das Alphabet als sinnentleerte Einzelteile.

Die Erben der Scherben

Es ist ein vortrefflicher multimedialer Reigen aus Indizien und Begriffen, aus denen sich die Silhouette des Dadageistes über einer spirituellen Kaaba erhebt, während irgendwo die Sex Pistols auf ihren Gitarren schrummen. Dada war eine Strategie des Zerschlagens, die keine künstlerische Alternative anbieten wollte***; erst ihre hier vorgestellten Erben der Scherben – Surrealisten, Situationisten, Punks, die 68er – sollten zu neuen Formen finden.

Völlig anders im Charakter hingegen die Ausstellung Dadaglobe Reconstructed im Kunsthaus. Innert sechs Jahren Recherche rekonstruierte Adrian Sudhalter (Co-Kuratorin Cathérine Hug) den geheimnisumwobenen, nie publizierten Dada-Almanach von Tristan Tzara. 1920, der Dada-Virus hatte bereits Berlin, New York, Paris und andere Orte infiziert, lud Tzara Dadaisten und Verbündete im Geiste zu diesem Künstlerbuch ein.

Ein grenzüberschreitendes Unterfangen, dessen Bedeutung insbesondere vor der Aufteilung der Nachkriegswelt in Mittelmächte, neutrale Staaten und Entente zu betrachten ist. Nach diesem Kräfteverhältnis ist die konzentrierte, sorgfältig gemachte Kabinettschau über das von Zensur und Repressalien überschattete Projekt auch sortiert. Gescheitert ist dieses vor allem, weil Francis Picabia die Finanzierung stoppte. Ihm wurde die Sache zu heiß. Denn als Dadaist stand man unter dem Generalverdacht, ein Bolschewist zu sein. (Anne Katrin Feßler, 9.2.2016)

***Nachtrag: ... aber die im Zertrümmern dennoch durchaus innovativ war (siehe die Dada-Collagen, das Interdisziplinäre oder das Performative)