Arbeit mit angesparten Sprachvorräten: Julian Schutting (78). Die Aufnahme zeigt den Autor im Jahr 2012.

Foto: Matthias Cremer

Seit Jahren treibt mich ein Wort um, beharrlich meldet es sich, ist ein noch unabgeschlossener Textimpuls, ein Wort, das ich von irgendwoher, wie aus dem Off, gehört habe, das nachklingt, wenn ich nur lange genug bei mir selbst bleibe und mich nicht zuschütten lasse von Terminen, Aufgaben und anderen Zumutungen. Ein Wort, wie nur mir gesagt, zugerufen als Aufgabe, etwas daraus zu machen – das Wort "Traumtreue".

Doch plötzlich in der Lektüre, im neuerlichen Eintauchen in das Werk Julian Schuttings, der Schock: Das Wort gibt es bereits, es steht schwarz auf weiß vor mir: Traumtreue heißt ein Gedicht in Julian Schuttings Band Traumreden, es beginnt mit den Zeilen:

Der Traum, der dich getragen hat
als ein Luft-Und Wellenschiff
auf brennenden Wörtern und flutenden Bildern –

Der Schock also zuerst, dass das Wort "Traumtreue", von dem ich mir sicher war, dass es ganz mir gehört, kein Originaleinfall ist – und dann das freudige Wiedererkennen. Und das erneute Wissen, dass ich aus Gedichten lebe, aus diesen Experimentierfeldern für Wörter und Sätze, diesen Expeditionen in sprachliches Neuland.

Und nicht nur ich lebe von ihnen, auch nicht nur die kleine Minderheit von Gedichtleserinnen und -lesern, sondern alle Sprachbenutzer leben bis in die Werbung hinein von Wörtern, Wortkombinationen, Fügungen und Sätzen, die erstmals in Gedichten erfunden, konstruiert, abgetestet wurden.

Darum ist es ein Schaden und eine Schande, dass Gedichte zumindest im deutschsprachigen Raum kaum mehr etwas zu gelten scheinen, dass in öffentlichen Literaturgesprächen nur mehr über Romane gesprochen wird, dass wichtige Zeitungen kaum mehr Gedichtbände rezensieren und vor allem: dass die neue Zentralmatura und das dahinterstehende Konzept des Deutschunterrichts nicht nur Gedichten, sondern gleich der Literatur überhaupt das Wasser abgraben, das sie auch für kommende Generationen fruchtbar machen könnte.

Umso größer war die Freude, als letztes Jahr der Gert-Jonke-Preis in der Sparte Lyrik vergeben wurde und mit Julian Schutting ein Lyriker gefeiert wurde, der seit etwa einem halben Jahrhundert an Gedichten arbeitet und dessen erster Lyrikband, In der Sprache der Inseln, 1973 erschienen ist.

Schuttings faszinierende Satzkaskaden kreisen immer wieder um ein Thema, um das der Liebe, es sind Gedichte, die oft mit einfachsten Alltagsbeobachtungen beginnen und sich zu komplexen Fragestellungen weiten können, Gedichte, die politisches und religiöses Sprachmaterial in sich aufnehmen und verändern oder Kunstwerke befragen und in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Immer wieder stößt man in Schuttings Gedichten auf überraschende Wortkombinationen, auf Erfindungen wie "Vorabschiedsbedrückung", "Wiedersehensbange" (aus: Liebesgedichte), "Spiegelbildtrinker" (Das Eisherz sprengen) oder "daunenflaumblau", "Halbschlafzugeneigtheit", "himmelsumnachtet" (Traumreden) – und natürlich "Traumtreue".

Und dennoch ist Julian Schutting kein Sammler erlesener Wörter und kein Konstrukteur ausgefallener Komposita – beide Methoden haben in der Geschichte der Lyrik immer wieder zu herausragenden Kunstwerken geführt -, Schuttings Einzigartigkeit als Lyriker ist auf der Ebene der Syntax, der Satzgrammatik anzusiedeln.

Die besonderen, die außergewöhnlichen Wörter sind fast wie ein Nebenprodukt eingelagert in den Strom seiner Sätze. Schutting-Sätze fallen zunächst schon durch ihre schiere Länge auf, und auch für die Gedichte gilt, was Christiane Zintzen über Schuttings Prosa geschrieben hat: "Die ausführlichen, durch mehrfache Parenthesen gestreckten Satzperioden haben langen – und nachhaltigen – Abgang."

Die Länge und die Komplexität dieser Sätze – Schutting liebt es, alle nur erdenklichen Möglichkeiten der Verschachtelungen von Sätzen auszureizen, Möglichkeiten, die man dem Deutschen vor der Lektüre seiner Texte kaum zugetraut hätte – sind keine Marotte und keine sprachtechnischen Etüden, sondern eine wirkungsvolle Methode, Material der Alltagssprache herauszuheben aus der alltäglichen Kommunikation und es abzudichten gegen deren Routine.

Christiane Zintzen hat auch die nachhaltige Wirkung dieser Methode beschrieben: "Der 'Infotainment'-Blick prallt frontal auf eine zunächst undurchdringliche Wand aus komplex ineinander gezahnten Sätzen. Und er prallt ab. Blechschaden an der windschnittigen Karosserie gewohnter Kommunikation, Zerrungen der kurzfristigen Aufmerksamkeitsspanne. Bleibt der langsame Gang. Schritt für Schritt, Wort für Wort tastet sich der Leser der Syntax entlang: so, wie ein Blinder seine Fingerkuppen den Punkten der Braille-Schrift entlangwandern lassen muss. Solche 'Blindenschrift' nötigt uns nicht nur ein ruhigeres Tempo ab, sondern auch eine Stille in uns und um uns herum."

Wer diese Stille in sich und um sich herum findet, begegnet bei Schutting auch einer syntaktischen Strategie, die in Gedichten äußerst selten vorkommt; ein ganz besonders gelungenes Gedicht des jüngsten Bandes Der Schwan trägt sie als Titel: "Konjunktive". Angewandt hat Schutting die Konjunktive schon immer, und einmal sogar ausgetestet, ob ihr Duktus ein fünf Seiten langes Gedicht tra- gen kann – Antonius und Cleopatra im Band Dem Erinnern entrissen zeigt, dass das wunderbar funktioniert. (Vielleicht helfen da auch die Kleinbuchstaben, mit denen Schutting konsequent und ausnahmslos jeden seiner Sätze beginnen lässt – das mildert den Spalt zwischen den Sätzen, relativiert den Neuanfang und stärkt den Zusammenhang des Gesamttextes.)

In Konjunktiven lässt Schutting seine Figuren in Dialog miteinander treten und tritt das Gedicht mit ihnen in Dialog. In vielen Gedichten formuliert Schutting Fragen und Wünsche im Konjunktiv oder entwirft alternative Bildwelten. Die Gedichte der Tradition, gerade auch die größten und schönsten, haben oft auch etwas Totalitäres, weil sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Bilder entwerfen, in deren Suggestivität man sich lesend nur ganz oder gar nicht hineinbegeben kann.

Julian Schutting tritt in seinen Konjunktiven und Fragen in einen Dialog mit Figuren, Wörtern, Sätzen und Bildern, der auch den Leser, die Leserin mit involviert, auch wenn das Gedicht Interpretationen (im Band Flugblätter) mit dem Satz beginnt: "jedes Gedicht ist an sich selbst gerichtet"

jedes Gedicht ist an sich selbst gerichtet
ein Gedicht ist gemacht
(aber mehr entdeckt als erfunden)

Mit diesem Gedichtanfang signalisiert Julian Schutting auch, dass er sich oft auf Vorgefundenes bezieht, auf vorgefundenes Sprach- und Bildmaterial. Das gerade macht die Schärfe und die Haltbarkeit seiner politischen Gedichte aus, dass sie vorgefundene Schemata, Formeln und Floskeln montieren, verändern, bis zur Unkenntlichkeit verfremden und so das, was sich dahinter verbirgt, zur Kenntlichkeit entstellen.

In einem meiner Lieblingsgedichte, Bittbriefe an Allmächtige, hat er das Vokabular und die Phraseologie politischer Manifeste mit denjenigen landläufiger Gebete kombiniert. Die Arbeit mit den angesparten Sprachvorräten, der Griff ins "Phrasenschwein", wird zum Beginn überraschender Erkenntnisprozesse.

Zahlreich sind die Gedichte Schuttings, in denen er mit vorgefundenen Bildkonstellationen in Dialog tritt – mit Bildern der künstlerischen Tradition, aber auch im Alltag entdeckt er Bilder, die zum Zündfunken werden für ein Gedicht. Selbst das intimste und existenziellste Thema, die Zentralachse der Lyrik wie auch der Prosa Schuttings, der Komplex Liebe, bezieht sich auf Vorgefundenes, und schon die Gedichttitel des Bandes Liebesgedichte signalisieren es: Worte, Wörter, Dinge und Wörter, um nur drei von ihnen zu nennen; ein Gedicht dieses Buches entwickelt in Litaneiform aus gängigen Blumennamen Anrufungen der Geliebten, ein anderes, Kinsey-Report überschrieben, kombiniert sexualwissenschaftliches Vokabular mit Engeln und Elementen christlicher Mystik.

Schuttings Syntax, die kreative Verbindung der Bruchstellen aller Sprach- und Bild-Fundstücke, macht es schwer, aus seinen Gedichten zu zitieren. Aber man soll ja auch Gedichte als Ganze lesen und nicht nur schöne Stellen konsumieren. Doch zur Liebesthematik, die bis in die Buchtitel hinein für so viele Gedichte und Prosaarbeiten Schuttings konstitutiv ist, möchte ich doch einige Zeilen aus dem Zusammenhang reißen, die ich mir vor Jahrzehnten im Gedicht Florenz bei der ersten Lektüre des Bandes Traumreden angestrichen habe:

denn Liebe ist, was im Schlafen wachbleibt
und jeden Morgen neu erwacht,
wie Schmerzen
in Wellen kommt, aber anders als Schmerzen
aber anders als Schmerzen nie geht

Gerade die letzte Verszeile macht deutlich, dass Schutting hier eine Liebeserfahrung im Blick hat, die Ich und Du, die Verbindung zweier Menschen überschreitet. Denn von der Erfahrung, dass die Liebe zwischen zwei Menschen geht, vergeht, ist gerade Schuttings Lyrik und Prosa voll. Und davon, dass Wörter, Sätze und Dinge bleiben:

was immer geschehen wird –
in diesen zwei Tauben, abgestellt am Straßenrand,
werden wir beisammen bleiben

beginnt der Band Liebesgedichte. Und gerade so wird das Fester geöffnet für die fundamentale Tatsache, dass die Verbindung eines Dinges, eins Bildes und, ja, gerade auch eines Wortes mit seiner Bedeutung fragil ist, konventionell und daher der Veränderung unterworfen.

Viel ist hier eingeflossen von der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, der in seinen Philosophischen Untersuchungen eben das gezeigt hat: dass die Bedeutung eines Wortes in etwa zusammenfällt mit seinem Gebrauch in sehr komplexen Sprachspielen und dass das Benennen der Dinge nicht den sakralen Urgrund der Sprache darstellt. Im Gedicht Bilder, am Schluss des Bandes Das Eisherz sprengen, hat Schutting das in Bezug auf Kunstwerke besonders klar zum Ausdruck gebracht:

Kunstwerke,
nicht durch täuschende Ähnlichkeit
wollen sie wiederbeleben
den Kinderglauben der Wilden
an die Kontinuität
von Abgebildetem und Bild,
geben vielmehr den Dingen ihre Fremdheit zurück,
gegen die uns
vertraulicher Umgang
blind gemacht hat

Den Dingen, den Wörtern und Sätzen, den Bildern ihre Fremdheit zurückgeben – das ist eine der immer neu produktiv werdenden Leistungen der Poesie von Julian Schutting. Schutting zu lesen und mit dem Kopf an diese Fremdheit anzustoßen ist in einer Zeit der Pseudovertraulichkeit im sozialen Umgang, des scheinbar totalen Offenlegens von Biografie und Privatleben in den sozialen Netzwerken und der Entwertung realer Orte, Geschehnisse und auch Begegnungen mit Menschen durch virtuelle Nähe von allem und jedem ein großer Gewinn. (Cornelius Hell, Album, 18.2.2016)