Ständiges Unterwegs- und Am-Werk-Sein: Notizblock Peter Handkes.

Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Wo immer man zu lesen anfängt in diesem Buch vom Lesen, es ergeben sich sofort vielfältige höchst persönliche und doch uns alle angehende Verbindungen. Handke schreibt zum Beispiel über Valentin Hausers Buch Greutschach. Ein Bergdorf erzählt, und sofort stellen sich Erinnerungen ein zur Herkunftswelt des Autors – und zu unser aller Kindheit, auch in dem Sinn, dass man etwas nie kennengelernt hat und sich doch daran erinnern kann.

Genauso lässt Handke in einem anderen "Begleitschreiben" eine andere Erinnerung an einen geschichtlichen Landschaftsraum aufleuchten, utopisch in den schönsten Farben. Handke erzählt dort eine "Zusammenkunft von drei Schreibern", Dimitri T. Analis, Adonis und er selber, "einer syrisch-arabisch, einer griechisch-französisch, der dritte österreichisch-slawisch, in einem libanesischen Restaurant im 15. Pariser Arrondissement, es ist das bevölkerungsreichste "und auch völkervielfältigste der ganzen Stadt."

Der eine, der österreichisch-slawische Autor, hört den Gesprächen der beiden anderen zu und verspricht ihnen, wenn sie dieses Gespräch in eine Korrespondenz verwandeln, es zu übersetzen.

"Gesagt, geschrieben, übersetzt (ein bisschen spät)." Und dann blendet er eine utopische Erinnerung ein, eine der vielen wunderbaren Stellen in den mehr als dreißig – die Rundfunkbeiträge für die Bücherecke in Radio Steiermark nicht mitgezählt – Erzählungen vom Lesen und vom Entziffern der Welt in den Werken der Kunst, ein Wachtraum vom malerischen Werk Picassos, der fast einzig und allein mit der Nennung von geografischen Namen auskommt: Einmal habe ihm ein Malerfreund, "inzwischen lange tot", von Picasso gesagt, in dessen Malerei "seien noch einmal sämtliche Küsten des Mittelmeers aufgeflammt, von Haifa über Aleppo, von Kappadokien über Athen und den Peloponnes, von Marseille über Barcelona und Valencia, von der Enge von Gibraltar bis Marokko, Algier, Tripolis und Alexandria."

Kunst im Alltag

Und Handke fügt dieser Aufzählung hinzu, dass er "im Lesen als Übersetzer" dachte, auch in der Korrespondenz zwischen Dimitri T. Analis und Adonis "leuchteten die Mittelmeergestade im Kreise noch einmal auf, wenn auch auf eine andere – zage und zugleich 'panische' Weise."

"Begleitschreiben" nennt Handke die unter dem Titel Tage und Werke zusammengestellten Vor- oder Nachworte zu Büchern und die Rezensionen, Reden, Zeitungsartikel, Radiobeiträge und Betrachtungen zu Werken der bildenden Kunst.

So verschieden der mediale Kontext ihres Erscheinens war und so weit die Erscheinungsjahre auseinanderliegen, diese "Begleitschreiben" sind miteinander verbunden durch verwandte, einander ergänzende Denkmotive und vor allem durch ein erzählerisches Element, welches die beschriebenen Werke im Alltag verankert, ihnen eine Geschichte gibt und freundschaftlich das persönliche Ich in den Werken mitdenkt und würdigt.

Und wir als Leser werden hineingenommen in eine seltene Aufmerksamkeit für Bücher und Kunstwerke, in welcher die Idee von Literatur spürbar wird: dass nämlich Lesen und Schreiben heute eine nur umso dringender gebrauchte Form der Weltentdeckung sind, weil das Bild der Welt nur immer noch mehr von "der" Wirtschaft, "den" Militärs und "den" Medien bestimmt wird.

Handkes Titelwort Tage und Werke weist als umgestelltes Zitat auf Hesiods Werke und Tage zurück, ein griechisches Lehrgedicht, um 700 vor Christi Geburt entstanden, das in seinen Hexametern das Tagwerk und die Arbeitsrhythmen des Jahres in einer kleinbäuerlichen archaischen Welt beschreibt. Sie wird unter das Gesetz und die Ethik der friedlichen kultivierenden Arbeit gestellt – eine solidarische, dörfliche Gegenwelt zur aristokratisch-heroischen Kriegskultur in den homerischen Epen.

Wenn Handke in seinem Buchtitel das Wort "Tage" an den Beginn setzt, erinnert er an sein Selbstverständnis als literarischer Chronist, der er mit seinen beständig geführten Notizbüchern ja auch ist, und das Wort "Werke" lässt uns an sein mehr als 50 Jahre währendes beständiges Am-Werk-Sein denken, ein Schreiben, das von Beginn an den Zusammenhalt mit dem Alltag und mit dem Tagewerk der vielen von der Literaturwelt ausgeschlossenen Menschen sucht.

Wie ein Aufschrei klingt in einem seiner Tagebücher (Das Gewicht der Welt, 12. Dezember 1978) die Frage, an die er sein Recht zum Schreiben knüpft: "Warum eigentlich sollte nicht jeder seine Meisterwerke nötig haben". Alle die bunt zusammengewürfelten "Begleitschreiben" in Tage und Werke erscheinen in ihrem Neben- und Nacheinander so zusammengehörig und genau an ihrem Platz notwendig, als gehörten das Würfeln und die Buntheit zur Kunst, so wie "Verknüpfen und Unverknüpftlassen" das Schreiben ausmachen, und letztlich auch die Lebenskunst, wenn Identität nicht zur Erstarrung führen soll. (Hans Höller, Album, 18.2.2016)