Michael Shannon und Jaeden Lieberher in "Midnight Special".

Foto: Warner Bros. / Ben Rothstein

Nachtfahrten üben im Kino besondere Sogwirkung aus – vielleicht ja deshalb, weil sie den Betrachter gleich in einen intimen Raum einschließen: In Midnight Special, dem Wettbewerbsbeitrag des US-Regisseurs Jeff Nichols, gibt es gleich eine ganze ganze Menge davon. Das liegt daran, dass hier drei Leute in einem Chevrolet im Dunkeln flüchten: ein Bub, zwei Männer (Michael Shannon, Joel Edgerton). Tatsächlich schalten die Wageninsassen sogar die Scheinwerfer aus, der Fahrer lenkt mit Nachtsichtgerät weiter. Die Leinwand wird blaugrau, es sind kaum Konturen zu erkennen. Ist es eine Entführung oder doch der Versuch, einer Gefahr zu entfliehen?

Midnight Special ist ein Genrefilm, eine Kombination aus Thriller und Science Fiction, bei der sich Zusammenhänge erst schrittweise erhellen. Es gibt eine Sekte, die seltsame Zahlenreihen memoriert; einen jungen, etwas nerdigen NSA-Beamten (Adam Driver), der ein bisschen mehr durchschaut als die FBI-Kollegen; und dann eben noch dieses Kind, das ein Geheimnis birgt, welches nicht einmal seine Eltern ganz verstehen. Alton heißt dieses Kind mit besonderen Gaben. Er kann sogar Satelliten auf die Erde abstürzen lassen. Damit dass nicht zu oft passiert, trägt er eine Brille. Aus seinen Augen strömt nämlich mitunter gleißendes Licht.

Anti-Blockbuster

Klingt weird? Ist es auch. In seinem Fokus auf einen Außenseiter, den niemand so richtig verstehen will, schließt Nichols' Film an Genrevorbilder von Steven Spielberg, John Carpenter oder Roger Corman an. Sein leicht hanebüchenes Drama erzählt er mit großer Ernsthaftigkeit. Im Herzen ist Midnight Special eigentlich ein Anti-Blockbuster: Der Spezialeffekt, also das, was Alton an Kraft in sich trägt, soll möglichst nicht zur Entfaltung kommen. Wenn es doch passiert, erscheint es umso mysteriöser. Der Film nimmt sich vor allem Zeit, den elterlichen Kummer, die Angst um ein Kind, um ein paar Drehungen weiter zu schrauben. Als Alton seinen Vater ein wenig beruhigen will, sagt dieser: "Ich mache mir aber gerne Sorgen um dich."

Von einem viel unbedarfteren Außenseitern erzählt Ted Fendts Short Stay, eine der Entdeckungen der Berlinale, die in der Sektion Forum lief, und überdies der einzige aktuelle Film, der in einer 35mm-Kopie gezeigt wurde. Der US-Amerikaner stellt einen sozial ungelenken jungen Mann in den Mittelpunkt seines Films, der nach Philadelphia zieht, um dort eine Zeit lang den Job eines anderen zu übernehmen – und zwar als Stadtführer in einem der historischen Viertel der Stadt. Mike (Mike Maccherone) ist allerdings nicht besonders gut darin, wenig souverän wirkt er auch im Austausch mit Freunden und Frauen. Und so sieht Fendts Film, in einem wundervoll lapidaren Tonfall, seinem Alltagshelden bei Situationen zu, die ihn nicht viel weiter bringen als dorthin, wo er schon war.

Raus aus der Fremdbestimmung

Hedi (Majd Mastoura) kämpft gegen ganz andere Beschränkungen. Als Außenvertreter einer tunesischen Peugeot-Niederlassung wird er auf unerquickliche Touren zu Firmen geschickt, denen die Inflation im Lande zusetzt. Meistens dringt Hedi nicht einmal ins Büro vor und soll bloß seine Visitenkarte deponieren. Der Job ist Teil eines umfassenderen Plans seiner überfürsorglichen Mutter, die dem jüngeren Sohn (und damit auch sich selbst) zu einer gefestigten Existenz verhelfen will. Einspruch ist in diesem traditionellem System unerwünscht. Auch die Ehe mit einer der Nachbarstöchter ist bereits arrangiert, auch wenn Hedi die junge Frau nur in heimlichen Treffen im Auto zu Gesicht bekam.

Mohamed Ben Attias Spielfilmdebüt Inhebbek Hedi (Hedi) muss vor diesem Hintergrund fast zwangsläufig auf eine Ausbruchsgeschichte zulaufen. Doch der 1976 geborene Regisseur beschreibt diesen Prozess nicht auf den nahen liegende Wegen. Hedi ist in Mastouras zurückhaltender, sanftmütigen Verkörperung ein passiver Held. Wenn er aus seinen Routinen ausschert, dann geschieht das nebenbei. Das ist eine der Qualitäten des von den Dardenne-Brüdern koproduzierten Films: Er nimmt den Betrachter zärtlich bei der Hand, um den Druck dann unmerklich aber konstant zu erhöhen.

Wie sich individuelle Freiheit anfühlt, erfährt Hedi schließlich auf seiner Dienstreise, als er in einem der nur wenig bevölkerten Touristenhotels absteigt. Dort findet ein dramaturgisch gut eingefädelter Perspektivwechsel statt. Inhebbek Hedi mag an mancher Stelle seine Zuschreibungen ein wenig zu überdeutlich machen, doch über weite Strecken gelingt es dem Film, sein Drama von innen heraus zu erzählen. Einen leichten Ausweg nimmt Attia jedenfalls nicht. (Dominik Kamalzadeh, 13. 2. 2016)